Karl Kraus’ „Letzte Tage der Menschheit“ in Salzburg | ABC-Z

Die Worte künden vom kommenden Schrecken. In den Leitkommentaren, Reportagen und Zeitungsüberschriften, die Karl Kraus zwischen 1915 und 1922 als Material sammelte, um Ausbruch und Verlauf des Ersten Weltkriegs zu dokumentieren, spiegelt sich eine geistig-moralische Wende. Zeigt sich, wie Kriegsrhetorik, Propaganda und Ideologie die Ausdrucksweisen verändern und damit den Geist der Menschen verführen. Sie auf den Opfertod einschwören. Feindbilder eingeben. Nationalstolz wecken.
Das war damals. Und heute? „Es kommt immer alles wieder“ heißt es in Kraus’ „Letzten Tagen der Menschheit“, jenem megalomanen 220-Szenen-Stück, das aus der Materialsammlung hervorging und seither als theatralischer Aufschrei gegen jede Form von Kriegstreiberei und bellizistischer Propaganda gilt. Und heute? Was würde ein Karl Kraus heute sammeln?
Vielleicht den Satz des ukrainischen Schriftstellers Serhij Zhadan, der in Salzburg einen Literaturpreis bekommt und im Gespräch mit der „Presse“ seine Beschreibung der russischen Invasoren als „Barbaren“ rechtfertigt: „Wenn Sie miterleben, wie Zivilisten getötet werden, die eigenen Freunde getötet werden – wie soll es da einen Humanismus geben?“ Oder einen Teil aus der Rede der polnisch-amerikanischen Historikerin Anne Applebaum zur Eröffnung der Festspiele, in der sie über den demokratischen Wert von zivilgesellschaftlichen Initiativen und deren Gefährdung durch Autokratien spricht. Der russische Präsident sei einem „paranoiden Nationalismus“ verfallen, sagt sie, er terrorisiere die Ukraine mit willkürlicher Gewalt, errichte dort „Folterkammern und Konzentrationslager“.
Die Wortwahl bezeugt die Zeitenwende
Die Worte ändern den Geist. Der Krieg ändert die Worte. Wir sind mitten in mehreren. Kurz bevor Applebaum spricht, stürmen Aktivisten mit rotbeschmierten Handflächen in die Felsenreitschule, entrollen Plakate mit der Aufschrift „Stoppt den Völkermord“ und rufen den ob ihres weltpolitischen Einflusses überraschten Trachtenträgern zu: „Blut, Blut an euren Händen.“ Danach versucht Bundespräsident Alexander Van der Bellen die Lagebeschreibung diskursiv auszugleichen, indem er an den „schlimmsten Pogrom der Nachkriegszeit“ im Oktober 2023 erinnert. „Konzentrationslager“, „Barbaren“, „Pogrom“.
Die Wortwahl bezeugt die Zeitenwende. „Es kommt immer alles wieder“ – nur müsste ein Karl Kraus von heute wohl vor allem auch in Russland nach Material für seine Collage suchen. In den Fernsehshows und Propagandasendungen, die von einem Atomschlag auf Europa oder einer totalen Vernichtung der Ukraine träumen. Und im Nahostkonflikt würde sich sein satirisch camouflierter Moralrigorismus wohl schnell in hilflosem Zynismus verlieren müssen.
Und doch zieht einen bei der wiederholten Betrachtung des Stücks vor allem anderen wieder sein Verfahren in den Bann. Dieser Versuch, die eigene Zeit „in Anführungszeichen zu setzen“, sie aus der Distanz von Zitaten, mitgehörten Gesprächen und Straßenszenen heraus zu betrachten und daraus eine Dramaturgie der wüsten Zerfledderung zu entwickeln. Ja, man folgt diesem Stück, wie man zerfledderte Zeitungsseiten umschlägt oder einen grellen Feed herabscrollt – in Erwartung der nächsten Überschrift, der nächsten Sensation.
Zerschossene Soldatenkörper
Mehr als tausend Figuren zählt das Stück im Original. Der tschechische Regisseur Dušan David Pařízek hat das Personal für seine Salzburger Inszenierung auf sieben reduziert. Damit nimmt er einen Gegenpol zur Inszenierung von Paulus Manker aus dem Jahr 2021 ein, die das Megalomane von Kraus noch durch eigene Megalomanie toppen wollte. Pařízek hingegen bleibt seiner notorisch nüchternen Form der Regieführung auch im Angesicht collagenhafter Entgrenzung treu, lässt sein phantastisches Burgtheaterensemble zu E-Gitarren-Begleitung in, vor und auf einem rotierenden Holzquader auftreten. An dessen Wände werden die Bilder von „Extraausgaben“, zerschossenen Soldatenkörpern oder geifernden Propagandisten geworfen – der Weltenbrand wird hier in das Format von Overhead-Folien eingepasst. Und die Verrücktheit der Zeit einmal mehr durch verwackelte Liveaufnahmen von zuckenden Gesichtern und gewürzgurkenschmatzenden Mündern symbolisiert.
Wie oft hat man das jetzt schon in seiner dritten Castorf-Ableitung gesehen? Wann wird diese Form der sinnschlappen Ästhetik endlich als Historismus abgelegt? So wie man sich irgendwann ja auch von der illusionistischen Bühnenmalerei verabschiedete? Die Zeit dafür wäre jetzt langsam gekommen.
„Wir haben jeder unsern Schmerz“
Allerdings kann dieser Szenenbildschieber-Opportunismus nicht dabei stören, dass man die Schauspielerinnen und Schauspieler hier fast durchgehend bewundert. Dieses Ensemble ist großartig besetzt, hat so viele verschiedene Färbungen und Tonlagen im Angebot, dass man die anderen 993 Figuren keinen Augenblick lang vermisst. Vor allem Dörte Lyssewski und Michael Maertens als infernalisches Diplomatenehepaar – er der schürzenjagende deutsche Gesandte, sie die intrigante Großschauspielerin – machen ungeheuren Spaß. Wie sie sich gegenseitig bekämpfen und belehren, zermürben und antreiben, das hat schon fast albeehafte Qualitäten. Aber auch die anderen stellen ihre Figuren mit einer Mischung aus komödiantischer Vorführung und angetäuschter Identifikation dar und verleihen ihnen insbesondere durch virtuose Dialektgebung Schärfe.
Marie-Luise Stockinger, die eine kriegslüsterne Reporterin spielt, konkurriert im zerdehnten Wiener Dialekt mit dem wunderbaren Branko Samarovski, der als alternder Patriot nur so lange an die reinigende Kraft des Krieges glauben will, bis seine eigenen Söhne eingezogen werden. Felix Rech spricht als koksender Feldkurat ein breites Rheinhessisch und ruft den „Kinnern“ das „Vadderland“ ins Gedächtnis. Während Elisa Plüss als Kraus’ pazifistisches Alter Ego stets einen Schweizer Mundart-Unterton behält, wechselt Peter Fasching als Feldwebel in atemberaubendem Tempo zwischen Hamburger Hafendialekt und Wiener Schmähschnoddrigkeit hin und her. Von der Idiomdiversität her ist dieser Abend überragend, in Sachen Regie und Dramaturgie vielleicht ein wenig zu unambitioniert.
Gerade am Ende geht der Vorhang ein bisschen zu oft auf und zu, zerfleddern die Szenen ins Ungefähre. Noch einmal balanciert der geniale Mienenmime Michael Maertens betrunken in Richtung Abgrund, noch einmal erweisen sich die Umstehenden als Mitläufer, Kriegsgewinnler, journalistische Einpeitscher, Fälscher und Opportunisten – dann tritt das Alter Ego des Autors ein letztes Mal vor das Publikum und gibt ihnen doch noch einen haltend humanen Satz mit auf den Weg: „Wir alle sind einzeln. Wir haben jeder unsern Schmerz, und der andere entbrennt nicht daran.“ Vielleicht, so denkt, nein hofft man beim Schritt in die regnerische Salzburger Nacht, vielleicht können Worte ja nicht nur vom Schrecken künden, sondern ihn auch bannen.