Politik

Karaoke: Warum mit Fremden singen gut für die Demokratie ist | ABC-Z

„Griechischer Wein“ von Udo Jürgens lief gerade, als ich mit Freunden und deren mir unbekannten Bekannten zum Singen in den Keller hinabstieg. Eine Bar, die mit einem Sammelsurium von Verkehrsschildern und alten Reklametafeln den Eindruck vermitteln wollte, sie sei irisch. Jeden Mittwoch und Donnerstag gibt es hier Karaoke. Es sollte ein spannender Abend werden, an dem ich sehr oft falschlag.

Man ist so daran gewöhnt, Menschen einzuschätzen, und ja, vielleicht stimmt bisweilen, was man glaubt an Kleidung, Frisuren, Alter und Körperhaltung ablesen zu können. Sozialer Hintergrund, eine politische Grundeinstellung, Einkommen, ein bestimmter Lebensstil. Karaoke hat mir gezeigt, wie wichtig es ist, offen dafür zu sein, falschzuliegen. Habermas meinte, in Kaffeehäusern des 17. Jahrhunderts die Grundlage für bürgerliche Öffentlichkeit gefunden zu haben, Menschen im Austausch auf Augenhöhe. Vielleicht sollte er mal schauen, ob es in seiner Heimat Starnberg eine Karaokebar gibt.

Wenn nichts ist, wie es scheint

Jedenfalls das erste Mal irrte ich bei einer der Bekannten meiner Freunde. Sie stieg souverän auf die Bühne, und ich erkannte die ersten Töne von „I Put a Spell on You“. Auweia, dachte ich, das ist mutig – oder wahnsinnig. Nina Simone, die legendäre Sängerin und Bürgerrechtsaktivistin, hat diese besondere Mischung von Wut, Trotz und Stolz in ihrer Stimme. Manchmal röhrt sie eher als dass sie singt. Der Song mit seinen vielen Hochs und Tiefs ist sehr anspruchsvoll.

Dieser Text stammt aus der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung.



Doch meine Tischnachbarin legte eine so unfassbar gute Performance hin; gleich nach den ersten Tönen wurde begeistert gegrölt. Zu ihrer treffsicheren Stimme kam ein sehr lasziver Auftritt. Ich sah mich um und bemerkte: Keiner der Umstehenden hatte mit so einer Wahnsinnsdarbietung gerechnet. Man sieht eben niemandem an, ob er oder sie eine schöne Stimme hat.

Der lauteste Applaus für die schiefen Töne

Auf sie folgte eine Frau, die ich wertfrei als Typ zurückhaltende Buchhalterin eingeschätzt hätte. Sie bekam von allen den lautesten Applaus. Das lag auch daran, dass sie wirklich nicht singen konnte. Der Text ihres Songs riss alle umso mehr mit: „I’m not scared to be seen / I make no apologies / This is me“ – kein Mauerblümchen, furchtlos! Mut und Ehrlichkeit in Kombination mit ihren schiefen Tönen brachten ihr brausenden solidarischen Beifall ein. Nach ihr übernahm ein Rudel junger Männer die Bühne – zugegeben, bei denen lag ich nicht ganz falsch. Sie konnten den Rammstein-Song ihrer Wahl auswendig.

Es folgte eine Provokation, die mich ebenfalls vollkommen überraschte. Unauffälliger Mann, etwa Anfang 50, vielleicht der Typ für einen Herbert-Grönemeyer-Song oder was von Genesis? Im worst case die Hymne der zu zufriedenen Männer: Sinatras „My Way“. Aber Pustekuchen. Das „Arschloch!“ in seiner Interpretation von „Schrei nach Liebe“ von den Ärzten kam aus tiefster Seele. Er verabschiedete sich mit einem „Fuck Nazis!“ von der Bühne. Und ich war schon wieder baff. In diesem irischen Darmstädter Keller war nichts, wie es schien. Was war dann mit der Welt oben?

Back to top button