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Kann uns Lincoln vor Donald Trump sichern? Liberale Demokatie am Ende | ABC-Z

Kann der Fortbestand eines Staates, dessen Bürger sich selbst regieren, auf Dauer gesichert werden? Abraham Lincoln gab auf diese Frage am 27. Januar 1838 in seiner Rede im Young Men’s Lyceum von Springfield, einer Anstalt der Erwachsenenbildung, eine in der Sache positive und im Ton sogar verheißungsvolle Antwort: Bis ans Ende der Zeiten, für eine irdische Ewigkeit kann die Republik bestehen, wenn die Bürger kluge Anstalten treffen und sich auch in ihrem persönlichen Verhalten klug anstellen. „The Perpetuation of Our Political Institutions“ lautete der Titel der Rede. Als Lincoln sie hielt, war er selbst noch ein junger Mann. Der Achtundzwanzigjährige war seit vier Jahren Abgeordneter im Repräsentantenhaus.

Diana Schaub, Professorin für Politische Wissenschaft an der Loyola-Universität Maryland in Baltimore, vollzog in einem Vortrag in der Münchner Carl-Friedrich-von-Siemens-Stiftung am Tag der Amtseinführung des 47. Präsidenten der Vereinigten Staaten den Gedankengang des Frühwerks des 16. Präsidenten nach. Der Duktus des Vortrags war für deutsche Zuhörer ungewohnt. Schritt für Schritt erläuterte Schaub Lincolns rhetorische Mittel, um deren Wirkung über den Abstand von 187 Jahren und zwei Kontinenten hinweg in der Münchner Anstalt der Erwachsenenbildung, deren Publikum unter der Geschäftsführung von Isabel Pfeiffer-Poensgen deutlich jünger geworden ist, noch einmal zu erzeugen. ­

Nie mehr bei Rot über die Straße

Lincolns Grundgedanke ist, dass in ­einem Staat der Volksgesetzgebung absoluter Rechtsgehorsam nötig ist, weil schon die opportunistische Nichtbefolgung lästiger Vorschriften, erst recht aber der aus Prinzipien gerechtfertigte Rechtsbruch, die Übertretung eines vermeintlich oder sogar offenkundig ungerechten Gesetzes, die Gesetzlosen ermutigt, den Mob, der im Vorhof der demokratischen Institutionen lauert. Was Henry David Thoreau elf Jahre nach Lincolns Rede mit diesem Begriff bezeichnete, ist Selbstjustiz und die Eröffnungshandlung eines Bürgerkriegs.

Die Überzeugungskraft dieses Gedankens beglaubigte Schaub mit ih­rem eigenen Zeugnis: Seit sie Lincolns Lyzeums-Ansprache gelesen habe, sei sie nie mehr bei Rot über die Straße gegangen. Peter Strohschneider, der Mediävist und frühere Präsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft, der sich mit seinen zwei jüngsten Büchern an der Debatte über die Gefährdungen der Demokratie durch den Populismus beteiligt hat, wollte von Schaub wissen, wie nach Lincoln der Bürger handeln soll, dem zwei Gesetze gleicher Autorität Gegensätzliches vorschreiben. Die Frage traf Schaub unvorbereitet. Sie könne sich einen Konflikt nicht zwischen gleichrangigen Gesetzen vorstellen, sondern nur zwischen Normen unterschiedlichen Rangs, dem einfachen Gesetz und der Verfassung.

Mit dem Vorrang der Verfassung wollte Schaub den Effekt ihrer Verwerfung des zivilen Ungehorsams abmildern. Martin Luther King, dessen Gedenktag mit Donald Trumps Amtseinführung zusammenfiel, hatte in ihrer Deutung seines „Briefes aus dem Gefängnis von Birmingham“ dem Gesetzesbruch zum Zweck der Beschleunigung der Gesetzesänderung ohne Not das Wort geredet. Die Bürgerrechtler der Ära Kings durften demnach die Gesetze zur Rassentrennung übertreten, da sie verfassungswidrig gewesen seien.

Gesetzesgehorsam unter Vorbehalt

Mit dieser Konzession kam Schaubs philosophisches Gebäude ins Rutschen. Sie ordnete Lincoln der Tradition des Anti-Antinomianismus zu, der Ablehnung einer libertären Theologie, die das individuelle Gewissen als einzige Richtschnur des Handelns akzeptiert. Aber was soll ein Gesetzesgehorsam unter dem Vorbehalt der Verfassungsmäßigkeit wert sein? Wenn die Erwartung, dass der Oberste Gerichtshof der Vereinigten Staaten oder das Bundesverfassungsgericht eine Vorschrift aufheben wird, als Lizenz zur Nichtbefolgung genügen soll, triumphiert das private Urteil über das allgemeine Gesetz.

Dieses Gesetz gilt in der Form, in der es von den zuständigen Behörden angewandt wird, im Zweifel in der Auslegung durch die Gerichte. Auch dabei kommt es aber auf das jeweilig beziehungsweise zunächst zuständige Gericht an. Nach Schaubs Vorstellungen wird im Instanzenzug nur die förmliche Rechtmäßigkeit der Gesetze geprüft, so dass die Frage ihrer substantiellen Gerechtigkeit dem politischen Streit überlassen bleibt, der eine Änderung der Gesetze herbeiführen kann. Nicht nur bei Zugrundelegung der Auslegungslehre des liberalen Rechtsphilosophen Ronald Dworkin ist diese Version des Ideals richterlicher Selbstbeschränkung unrealistisch. Spätestens in der obersten Instanz kommen bei der Interpretation offener Rechtsbegriffe konkurrierende Ideen vom guten Leben ins Spiel. Der Unterschied zwischen förmlich rechtmäßigen, inhaltlich ungerechten Gesetzen, die King durch symbolische Nichtbefolgung aushebeln wollte, und Gesetzen, deren Verfassungswidrigkeit sich auf dem Rechtsweg enthüllt, wird unscharf.

Diana Schaub studierte an der Universität von Chicago, war Fellow des American Enterprise Institute und veröffentlichte im konservativen New Yorker „City Journal“.Carl Friedrich von Siemens Stiftung

Denn in der Rechtswirklichkeit eines zuletzt von einem Verfassungsgericht überwachten Staates lassen sich die Geltung der Gesetze und die Autorität richterlicher Interpretationen nicht restlos trennen. Das Recht zu befolgen heißt für Amtsträger, aber auch Bürger, sich nicht nur an die Gesetze, sondern auch an die einschlägigen Urteile des Verfassungsgerichts zu halten. In den Vereinigten Staaten ist das noch auffälliger als in Deutschland, weil sich der Supreme Court häufiger korrigiert als das Bundesverfassungsgericht. Rosa Parks, so viel gestand Schaub zu, ging ein Risiko ein, als sie die lokal erlassene Verordnung über den Aufenthalt im öffentlichen Raum in der Zuversicht übertrat, dass sie der Verfassung widersprach.

Wie sähe es beim Abtreibungsrecht aus? 49 Jahre vergingen von der Proklamation eines Grundrechts auf Abtreibung durch den Obersten Gerichtshof 1973 bis zu dessen Widerruf. Hätte nach Schaub die Nichtbefolgung des Urteils im Fall Roe in Erwartung des später im Fall Dobbs gesprochenen Urteils toleriert werden sollen? Und dürften die Anhänger der Abtreibungsfreiheit heute spiegelverkehrt agieren? Das ist genau das Szenario der Ermächtigung des Gewissens durch schlaue Privatinterpretation, das den Anti-Antinomianern Thomas Hobbes und Immanuel Kant Schrecken einjagte. Und Abraham Lincoln nach Schaub doch auch.

Eine Religion der Rechtlichkeit

Auf Nachfrage klang Schaubs Doktrin der zwingenden Rechtsunterwerfung in den praktischen Implikationen nicht mehr so absolut wie in der Theorie, obwohl das Absolute ihr Witz sein soll. Die Beschwörung der Unbedingtheit des Gehorsams bleibt dann als rhetorischer Überschuss zurück. Lincoln predigte den aufstiegswilligen jungen Männern von Springfield Verehrung der Gesetze, „reverence for the laws“. Der Verdacht drängt sich auf, dass die Verschiebung der Semantik ins Religiöse, die Übertragung göttlicher ­Attribute auf das menschengemachte Recht wenigstens in der heutigen Aktualisierung von Lincolns Lehre den Sinn hat, von den problematischen, zufälligen, zeitabhängigen, partikularen Interessen dienenden, diskussionswürdigen Anteilen des Rechts abzulenken. Als solches verdient das Gesetz so oder so Unterwerfung.

Eine literaturwissenschaftliche Kollegin Peter Strohschneiders, die als Stipendiatin der Alexander-von-Humboldt-Stiftung in München forscht, lud Schaub ein, Franz Kafkas Geschichte „Vor dem Gesetz“ auf ihr Thema zu beziehen. Der Eintritt in das Gesetz war nur für den vergeblich auf Einlass Wartenden bestimmt, Allgemeinheit und Individualität des Gesetzes scheinen zusammenzufallen. Hat der Gesetzeszwang nicht etwas Unheimliches, ganz unabhängig vom Inhalt des einzelnen Gesetzes und von dessen Auswirkungen auf die Freiheit? Schaub schien auch von dieser Frage überrascht. Ihre Antwort war lakonisch: In einer kafkaesken Welt mag das stimmen, aber Lincoln sah das Recht nicht als kafkaeske Welt.

Gedanken für die Ewigkeit fassend: Das Standbild Abraham Lincolns in seinem Grabmonument in Springfield, Illinois
Gedanken für die Ewigkeit fassend: Das Standbild Abraham Lincolns in seinem Grabmonument in Springfield, IllinoisWikimedia Commons / CC BY-SA 4.0

Wie sieht es mit unserer Welt aus? Die Verfassung der Vereinigten Staaten überträgt dem Präsidenten die Pflicht, „Sorge zu tragen, dass die Gesetze loyal ausgeführt werden“. Seit 1937 werden die Präsidenten am 20. Januar vereidigt, falls er nicht auf einen Sonntag fällt. Die Siemens-Stiftung konnte für diesen Tag also langfristig planen. Der Vortrag war der vierundzwanzigste einer Reihe mit dem Titel „Politische Philosophie“. Unter dem früheren Geschäftsführer Heinrich Meier pflegte die Stiftung enge Verbindungen zur Universität von Chicago und den Netzwerken der Schüler des Philosophen Leo Strauss – daher die Fußnotenbände zu Platon in der Schriftenreihe. Auch Schaub hat in Chicago bei Strauss-Schülern studiert, ebenso wie Peter Ahrensdorf, Carl Friedrich von Siemens Fellow 2024/2025, der den Abend moderierte.

Tatsächlich war die Rede der Professorin der Jesuiten-Universität instruktiv. Man begegnete der Exponentin einer in Europa noch zu wenig bekannten Schule des amerikanischen akademisch-politischen Le­bens, eines anti-disruptiven Konservatismus, in dem das neue Regime gleichwohl eine Stütze haben wird. Diese politischen Philosophen vertreten die Meinung, dass alle politischen Wahrheiten schon in der klassischen Antike erkannt und von den Gründervätern noch einmal in Wort und Tat formuliert worden sind. Lincoln gilt ihnen als der letzte Gründungsvater.

Der strikt anti-historische Ansatz dieses Denkens bedeutete hier, dass am 20. Januar 2025 ausführlich über die Gefahren des Mobs, also des entfesselten Pöbels, gehandelt werden konnte, ohne dass das komplemen­täre Phänomen der kaum noch verdeckten Gesetzlosigkeit in höheren Schichten erwähnt werden musste. Mit dem Mob habe Amerika in den letzten Jahren wieder üble Erfahrungen gemacht, sagte Schaub, und zwar auf beiden Seiten des politischen Spektrums. Im Gespräch ergänzte sie eine Unterscheidung: Der Mob des 6. Januar 2021 habe an Wahlen geglaubt, ebenso wie Trump, wogegen der Linken die rechtlichen Regeln gleichgültig geworden seien. Während Schaub in München redete, begnadigte Trump in Washington alle wegen der Ereignisse am oder im Kapitol Verurteilten.

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