Kann man das noch Unterschichten-Fernsehen nennen? | ABC-Z

Der große Sonntag der Entscheidungen ist vorüber. Millionen Menschen haben hoffnungsvoll an ihren Fernsehgeräten mitgefiebert und ihrem Lieblings-Kandidaten die Daumen gedrückt. Wie würde er sich schlagen in einer Gruppe von Menschen, die sich hassen und die vor Aufgaben stehen, für die sie nicht qualifiziert sind? Wird er sich auf sinnlose Streitthemen einlassen, die nur von den wirklichen Charakteren und Problemen ablenken sollen? Oder schafft er es, sich selbst treu zu bleiben und unbeirrt von den Attacken der anderen Kandidaten seinen Weg zu gehen, bis er zum Gewinner gekürt wird?
Spannende Frage, aber leider schreibe ich ja heute nicht über Olaf Scholz und Friedrich Merz im TV-Duell, sondern vom Showdown am Lagerfeuer der Rudimentär-Karrieristen um das Zepter von „Ich bin ein Star – Holt mich hier raus“. Das legendäre RTL-Zwangsdiätcamp um das begehrteste Schmuckstück der Seichtunterhaltungsbranche: die Dschungelkrone. Ein trashroyales Krönungsaccessoire, das dem Gewinner 100.000 Euro und einen fulminanten Quereinstieg in die Baumarkteröffnungsbranche garantiert.
„Ich finde es richtig cool, dass ich die ganzen Heten hier weggeknallt habe“
Dieses Jahr haben sich Alessia Herren, Pierre Sanoussi-Bliss und Lilly Becker in einem sechzehntägigen Entwürdigungsmarathon ins Finale um die 18. Legislaturperiode als RTL-Majestät in die Herzen der Zuschauer gecampt. Die Tochter von Willi Herren, die Ex-Frau von Boris Becker und der Ex-Assistent von „Der Alte“. Oder wie Pierre Sanoussi-Bliss sagt: „Drei Mädchen!“
Den vom ZDF 2015 auf dubiose und bis heute nicht vollständig aufgeklärte Art aussortierten Volksschauspieler hatten die wenigsten auf der Finalliste, als eine Horde verhaltensauffälliger D-Prominenz mit radikal restaurationsbedürftigen Karrierebiographien in das Feldbettlager im Regenwald an der australischen Gold Coast einzog. Entsprechend zufrieden zeigt sich Sanoussi-Bliss am Finaltag: „Ich finde es richtig cool, dass ich die ganzen Heten hier weggeknallt habe.“
Wobei, wie lupenrein heterosexuell die Bemannung der 18. Staffel Ekelprüfungsolympiade war, das muss womöglich neu definiert werden. Wer regelmäßig die oftmals Synapsenkirmes verursachenden Fachgespräche im Camp verfolgt hat, der weiß: Edith Stehfest hat mal eine Beziehung mit einer Frau gehabt; Timur Ülker verschickt Dickpicks an Bill Kaulitz; und sogar Jörg Dahlmann macht seine Liebe zu Donald Trump öffentlich.
„Ich bin in das Finale!“
Ebenfalls überwältigt von ihrem Einzug ins Essprüfungs-Endspiel zeigt sich Lilly Becker: „Ich bin in das Finale!“ Und wer jetzt denkt, statt in das Finale wärst du mal besser in das Schule gegangen: Lilly Becker ist Holländerin. Da bringt man Artikel und Anredepronomen gerne mal durcheinander. Wenn ich beispielsweise Sylvie Meis treffe (Grüße an dieser Stelle), fragt sie immer: „Wie geht es dich?“ Und wer würde das nicht entzückend finden?
Im Camp hingegen zeigt sich die Ruhe vor dem Shitstorm als Offenbarungs-Katalysator. Der bislang mit Geschichten aus seinem Privatleben eher sparsam hausierende Pierre beichtet seinen staunenden Beisitzern: „Dieser Knochen ist mir letztes Jahr nach einem Mückenstich gewachsen!“ Ein medizinisches Wunder. Wer kennt sie nicht, die gemeine Knochen-Stechmücke? Wobei Pierre da noch Glück hatte. Besonders unangenehm wird es nämlich erst, wenn diese zur Knochenspenderin mutierte Skandalmücke einen Mann im Intimbereich erwischt. Da geht ein erstes Date mit Anfassen anschließend oft in die Hose: „Oh, das Teil ist aber groß und hart und … äh, ach so, sorry!“
Auch das letzte Abendmahl vor dem Finale steht unter keinem ausschließlich guten Stern. RTL spendiert Seidenhühner, eine aus Ostasien stammende Gattung der Haushühner, die für ihre dunkle Haut bekannt ist. Besonders Alessia Herren zeigt sich optisch enttäuscht vom Dinnerangebot: „Warum sind die schwarz?“ Und da ist er auch schon, der erste garantierte Cancel-Culture-Fall des Finaltages. Denn das wird in der hyperwoken Exzentriker-Bubble nicht gut ankommen und als eiskalter Rassismus ausgelegt werden.
Warum sind die Hühner schwarz?
Die Antwort auf die Frage, warum die Hühner schwarz sind, glaubt mal wieder die Mutter Theresa des Kochlöffels zu haben. Edith Stehfest jedenfalls erklärt: „Das kommt von der Ernährung!“ Aha, fragt man sich da automatisch – und was essen die? Vermutlich ausschließlich den vollkommen angebrannten Reis, den Edith seit Tagen köchelt. Insgesamt aber erscheint mir die von Edith angebotene Kausalkette zweifelhaft. So oft, wie ich Avocado-Toasts esse, würde ich sonst aussehen wie Shrek.
Noch bevor bekanntgegeben wird, wer dieses Jahr den Thron besteigen darf, gibt es eine erste brutale Enttäuschung zu verarbeiten. Die handelsüblichen Final-Zuschauer hatten sich auf den ersten Abend ohne Timur Ülker und Edith Stehfest gefreut. Leider muss RTL irgendwie drei volle Stunden mit Dschungelfinalprogramm füllen, also gibt es eine traumatische Renaissance romantischer Bilder vom Nobby Beach, dem Strand des Fremdschams.
Dort hatte einst Marc Terenzi nach ihrer Abwahl aus dem Camp einen Heiratsantrag an Verena Kerth inszeniert, heute gibt Timur dort den von Tränen überwältigten Homecomer. Überboten wird dieses Schauspiel der Absurditäten nur noch von Ediths Anruf bei ihrem offenbar in Deutschland gebliebenen Ehemann Eric Stehfest. Der sagt kurz, Edith habe alles super gemacht, er müsse dann aber jetzt auch wieder schlafen.
Die 18. Staffel hat noch eine interessante Premiere in petto
Eric war einst „Neun Tage wach“. Nachdem er seine Frau 17 Tage nicht gesprochen hat, scheint er allerdings nur neun Sekunden zu haben. RTL hat sich hoffentlich die Filmrechte an dieser hyperidyllischen Liebesromanze gesichert. Obwohl, vielleicht hat Eric Stehfest in den letzten drei Wochen auch einfach nur bemerkt, wie lecker man kochen kann, wenn einem die eigene Frau nicht pausenlos reinredet.
Das Finaltrio muss derweil in die traditionellen Final-Einzelprüfungen. Bahnbrechende neue Erkenntnisse werden dabei nicht gewonnen. Die bemerkenswerteste Feststellung bleibt daher: Pierre isst Krokodilhoden und pürierte Kuhvagina schneller, als ich „ekelhaft“ sagen kann. Und Lilly Becker hat die pragmatischste Denkweise. Auf die Frage „Was ist ein Dudelsack?“ antwortet sie insgesamt zumindest teilkorrekt: „Man dudelt den Sack!“

Stichwort Sack: Die 18. Staffel hat auch im Finale noch mal eine interessante Premiere in petto. Erstmals in der Gräuel-Historie gibt es auch eine Ekelprüfung für die Moderatoren. Unverhofft werden sie während einer Anmoderation gnadenlos von der Horror-Zahnleiste des Spaßfernsehens unterbrochen: Stefan Raab, der Ex-Metzger, nutzt das RTL-Erfolgsformat zu etwas Werbung für sein vom Publikum weitgehend ignoriertes Comeback-Format.
Lilly Becker – von Heulkrämpfen geschüttelt
Am Ende geht es relativ schnell. Die Zuschauer überreichen die Bronzemedaille an Alessia Herren. Entgegen den Sympathie-Tendenzen im Netz wird Pierre Sanoussi-Bliss nur Vizekönig, denn Lilly Becker fährt die meisten Anrufe der Zuschauer ein und übernimmt von Heulkrämpfen geschüttelt das Zepter von Lucy Diakovska, der Vorjahreskönigin. Als RTL mit ihrem Sohn Amadeus auch noch einen besonderen Überraschungsgast in die Krönungszeremonie schickt, brechen endgültig alle Dämme. Herzlichen Glückwunsch!
Herzzerreißende Szenen zum Ende der 18. Staffel – und auch das Fazit der 2025er Ausgabe der Kamelhoden-Festspiele fällt tendenziell positiv aus. Vor allem im Hinblick auf den Bildungsauftrag, den unsere sensibler gewordene Gesellschaft inzwischen von derart reichweitenstarken TV-Formaten erwartet. Waren RTL und insbesondere Reality-Formate lange als „Unterschichtenfernsehen“ diffamiert worden, hat das Dschungelcamp mittlerweile elementar wichtige positive Auswirkungen auf die kognitive Potenz der Republik. Die oft schmerzhaft grauenvollen Englischkenntnisse der Prominenten motivieren junge Menschen beispielsweise mehr und mehr, die Sprache perfekt lernen zu wollen.
Und auch ich persönlich habe profitiert. Nach 17 Tagen Dschungelcamp kann ich jetzt Pierre Sanoussi-Bliss schreiben, ohne vorher zu googeln. Alles in allem muss man sagen: Es hätte schlechter laufen können. Ich freue mich auf die 19. Auflage im kommenden Jahr. Dann ja aus aktuellen Gründen vielleicht mit Olaf Scholz. Oder mit Boris Becker. Potenzielle Superkandidaten gibt es einige. Wir dürfen gespannt sein. Bis dann!