Kanadas Premier Trudeau verliert seine engste Vertraute – Politik | ABC-Z
Es sind Sätze, die alles andere als schmeichelhaft sind für einen Regierungschef. Man müsse die aktuelle Bedrohung „sehr ernst“ nehmen und daher auf „teure politische Spielereien verzichten, die wir uns nicht leisten können“. Die Kanadierinnen und Kanadier wüssten genau, „wann wir für sie arbeiten und auch, wann wir uns nur auf uns konzentrieren“, heißt es in dem einseitigen Brief, der am Montag im Büro von Premierminister Justin Trudeau ankam und zeitgleich auf der Plattform X veröffentlicht wurde.
Und weil diese Sätze nicht von einer Abgeordneten stammen, sondern von Chrystia Freeland, der langjährigen Finanzministerin, herrscht in Ottawa helle Aufregung. Denn Freeland reicht mit dem Brief ihren Rücktritt ein und verschlimmert dadurch Trudeaus missliche Lage. „Schockwellen“ habe der Brief ausgelöst, schreibt die Zeitung Globe and Mail, die seither zahlreiche Details ausgräbt.
Freeland will sparen, Trudeau im Wahlkampf viel Geld ausgeben
So habe Trudeau Freeland am Freitag in einem Zoom-Videogespräch mitgeteilt, dass er sie in dieser Woche als Finanzministerin ersetzen wolle. Einen anderen Posten im Kabinett will die 56-Jährige aber nicht übernehmen. Der Personalwechsel ist nicht nur brisant, weil in Kanada spätestens im Herbst 2025 gewählt werden muss und die Partei des einstigen „Posterboys der Progressiven“ Trudeau in Umfragen 25 Prozentpunkte hinter den Konservativen liegt.
Der Rücktritt elektrisiert viele, weil er offenlegt, dass Kanadas Regierung nicht weiß, wie sie auf die Rückkehr von Donald Trump ins Weiße Haus reagieren soll. Denn die Bedrohung, von der Freeland schreibt, ist die „America-First“-Politik des Republikaners, der Importe aus Kanada und Mexiko mit einem Zoll von 25 Prozent belegen will. Ökonomen rechnen angesichts der engen wirtschaftlichen Verzahnung der beiden Wirtschaften mit einer Rezession, weshalb Freeland zu Sparsamkeit im Staatshaushalt rät.
Diesen hätte sie am Montag im Parlament präsentieren sollen, doch sie wollte die Ideen ihres Parteichefs nicht mittragen. Trudeau plant Steuersenkungen und möchte im April an 18 Millionen Kanadier einen Scheck von 250 kanadischen Dollar (166 Euro) schicken, um die durch die Inflation rasant gestiegenen Kosten für Lebensmittel und Mieten etwas zu kompensieren. Sie sind der Grund für das desaströse Image Trudeaus, der seit 2015 regiert.
Freeland legte sich mit Putin an – und mit Trump
Der wichtigste Faktor für die mediale und politische Aufgeregtheit in Kanada ist aber Chrystia Freeland selbst. Diese gilt nicht nur dem Economist als Trudeaus „engste Vertraute und Verbündete“. Der Sohn des früheren Premiers Pierre Trudeau wurde 2013 Chef der kanadischen Liberalen, die trotz ihres Namens für eine sozialdemokratische Politik stehen. Die Absolventin der Elite-Unis Harvard und Oxford arbeitete damals nach Stationen als Reporterin bei der Washington Post und der Financial Times in New York als Redaktionsleiterin für Reuters und schrieb erfolgreiche Bücher über die „Superreichen“.
Trudeau setzte auf Themen wie Gleichberechtigung und wirtschaftliche Fairness, um bei der Mittelschicht zu punkten. Er überredete Freeland, bei einer Nachwahl in Toronto anzutreten – und die dreifache Mutter wurde ins Parlament gewählt. Wegen ihrer Kritik am Regime von Wladimir Putin wurde sie 2014 mit einem Einreiseverbot für Russland belegt, was sie als „persönliche Ehre“ bezeichnete. „Es gibt wahrscheinlich keinen Tag, an dem ich nicht dankbar dafür bin, dass ich sie zur Kandidatur überzeugen konnte“, verriet der Premier 2018 seinem Biografen Aaron Wherry.
Freeland war zunächst für Handel zuständig und wurde nach Trumps Wahlsieg Außenministerin. Sie handelte das neue Freihandelsabkommen mit den USA und Mexiko aus und wendete Schaden für kanadische Unternehmen ab. Dass Trudeau sie nicht zum Antrittsbesuch in Trumps Privatclub Mar-a-Lago mitnahm, soll sie verärgert haben. Der künftige US-Präsident ätzte auf Truth Social, niemand werde Freeland vermissen.
2019 machte Trudeau sie zu seiner Stellvertreterin und übertrug ihr 2020, also mitten in der Pandemie, das Finanzministerium. Bis vor wenigen Wochen verteidigte Freeland ihren Chef loyal gegen alle Vorwürfe, doch nun kam es zum Bruch. Ihr Mandat als Abgeordnete will sie nicht nur behalten, sondern verteidigen.
Diese drei Szenarien gibt es für Trudeau
Den meisten Beobachtern zufolge hat Trudeau drei Optionen. Mittlerweile fordern 13 der 153 liberalen Abgeordneten seinen Rücktritt als Parteichef. Bisher klammert sich der 52-Jährige aber an seine Ämter und möchte wie sein Vater einen vierten Wahlsieg einfahren. Auf der Weihnachtsfeier seiner Fraktion sagte er am Dienstag: „Wie in den meisten Familien gibt es auch bei uns manchmal Streit über die Feiertage, und wie in den meisten Familien werden wir diesen lösen.“ Sollte Trudeau abtreten, dürfte es einen Wettbewerb um den Vorsitz geben: Neben Freeland gilt Außenministerin Mélanie Joly als interessiert.
Als zweites Szenario nennt die New York Times, dass Trudeau einen Wahltermin ansetzt, der deutlich vor Oktober 2025 liegt. Darauf hofft auch Oppositionsführer Pierre Poilièvre. Offen ist die Strategie der New Democratic Party (NDP). Die linke Partei hatte nach 2021 Trudeaus Minderheitsregierung gestützt, doch im Sommer kündigte die NDP das sogenannte Stillhalteabkommen, das eine Umsetzung progressiver Vorhaben garantierte.
Als letzte Variante gilt ein Wahltermin im Herbst. Trudeau dürfte hoffen, dass die Wähler durch die Schecks und Steuersenkungen positiver gestimmt sind und er sich beim G-7-Gipfel als Staatsmann präsentieren kann. Er wird auch versuchen, einen Kontrast zu Trump aufzubauen und den populistisch auftretenden Poilièvre als Gefahr für „Kanadas Werte“ zu präsentieren.
Ob dies gelingen kann, ist allerdings fraglich. In der ersten Umfrage nach Freelands Rücktritt sagten nur elf Prozent, dass Trudeau eine weitere Amtszeit verdient habe. Zwei Drittel fordern seinen Rücktritt. Noch schlechter sind die persönlichen Werte, sagt Meinungsforscher David Coletto: „So unbeliebt war der Premier noch nie.“