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Kafka-Projekt in Dießen: Performance zwischen Poesie und Panikattacke – Starnberg | ABC-Z

Ist es ein Dachs oder doch ein Maulwurf, der seinen Erdbau mit Vorräten füllt und gegen Eindringlinge schützt? Ist es ein Mensch, der sich von der Welt abschottet und sich in seinen eigenen Gedankengängen verstrickt? Ist es gar Kafka selbst, der an den zischenden Geräuschen seiner tuberkulösen Lunge verzweifelt? Generationen von Literaturwissenschaftlern haben sich an Kafkas unvollendetem Text „Der Bau“ abgearbeitet. Das ELLE-Kollektiv und das Duo Paschke/Lakner fügen nun mit „Discofox im Dachsbau“ einen weiteren Deutungsansatz hinzu, indem sie ihn als Anleitung zum Angst haben lesen und zum Gleichnis für das Auseinanderfallen unserer Welt machen. Ihre fulminante Theater-, Tanz- und Musik-Performance feierte am Samstag Premiere in der Freien Kunstanstalt in Dießen und macht nun im Klostergut in Schlehdorf und im Stadttheater Landsberg Station.

Ihr Protagonist ist zunächst eher Tier als Mensch, er trägt unter seinem dicken Pelz einen abnehmbaren Winterspeck und Rippenstrickunterwäsche. Wie ein Mantra wiederholt er die Sätze: „Ich lebe im Innersten meines Hauses in Frieden. Ich habe den Bau für mich und nicht für Besucher gebaut. Er ist so gesichert wie überhaupt auf der Welt etwas gesichert werden kann.“ Aber lange vorbei sind die Zeiten, in denen man sich auf einem Biedermeiersofa ausruhen konnte. Unerbittlich und ununterbrochen schickt uns die Welt ihre Hassbotschaften, dringen Kriege und Gewalt, Gefahren, Misstrauen und Angst in die eigenen vier Wände ein.

Was gerade noch so unverrückbar und sicher wie die Demokratien der westlichen Welt erschien, ist es einen Wimpernschlag später nicht mehr: „Ich verstehe plötzlich meinen früheren Plan nicht mehr“, lässt Kafka seinen Protagonisten sagen, „ich kann in dem ehemals verständigen nicht den geringsten Verstand finden.“ Zunehmend wird er nun ein Mensch, der in die Spirale der Angst gerät und sich gleichzeitig selbst zusieht, wie sein Verhalten immer neurotischer wird. Er kann nicht hier und dort zur gleichen Zeit sein, kann nicht sein Leben sichern und es dabei auch leben. Immer verpasst er irgendwo etwas, einen eindringenden Feind, einen neuen Ausweg, den Frieden im Innersten des Hauses, das Leben draußen sowieso.

Die Textfassung für „Discofox im Dachsbau“ stammt von Elisabeth-Marie Leistikow, die auch Regie führt und als verwegene „Discofoxin“ auftritt. Den tief verschneiten „Bau“ hat der Bühnenbildner Louis Panizza eingerichtet. Auf dem weißen Tanzboden, der sich tief in den Zuschauerraum hineingräbt, agieren Luis Lüps als Schauspieler, Lara Paschke als Tänzerin und Jakob Lakner als Musiker. Aber so, wie sich Gedankengänge überlappen, Schlussfolgerungen in die Irre führen und der Übergang zwischen Drinnen und Draußen im Schneesturm versinkt, so verwischen sich auch die Grenzen zwischen Text, Tanz und Musik, zwischen Poesie und Panikattacke, zwischen Spiel und Kampf, zwischen dem dunkel-schönen Gesang der Bassklarinette und den spitz gellenden Angstschreien, zwischen Kostüm und Zwangsjacke, zwischen Tier und Mensch, zuletzt auch zwischen Beklemmung und Befreiung.

Das Kollektiv wurde in Schondorf gegründet und auch mit dem Tassilo-Preis ausgezeichnet

Das ELLE-Kollektiv wurde 2017 von den beiden Schauspielern und Regisseuren Elisabeth-Marie Leistikow und Luis Lüps sowie dem Bühnenbilder Louis Panizza in Schondorf am Ammersee gegründet und realisierte seither Projekte mit unterschiedlichen Wegbegleitern. Lara Paschke ist zeitgenössische Tänzerin und arbeitet mit dem Musiker Jakob Lakner als künstlerisches Tandem in verschiedenen Formaten, beide wohnen in Schlehdorf. An der Umsetzung von „Discofox im Dachsbau“ waren auch die Videokünstlerin Vanessa Hafenbrädl und die Kostümbildnerin Victoria Dietrich beteiligt, Produktionsassistentin war Nora Berkmann.

Für sein „immersives Dorftheater“ wurde das ELLE-Kollektiv 2021 mit dem Tassilo-Preis der Süddeutschen Zeitung ausgezeichnet. Spätestens mit ihrem Kafka-Projekt hat die Truppe unter Beweis gestellt, dass großes Theater auch in der Provinz möglich ist – und trotzdem „immersiv“ sein kann.

Die weiteren Termine sind am 31.1. und 1.2. in Schlehdorf und am 5.2.2025 in Landsberg. Tickets unter ellekollektiv.de im Internet.

 

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