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„Jürgen Klopp beschädigt seine Reputation“ | ABC-Z

Herr Wieczorek, die Kulisse Ihres Buches „Spiel an der Außenlinie. Eine Abstraktion“ ist das Darmstädter Stadion am Böllenfalltor. War die Gegengerade dort schon früh Ihre Heimat?

Ja, da bin ich nach Möglichkeit immer gewesen, zunächst mit meinem Vater. Früher war samstags Autopflege angesagt. Bei Heimspielen haben wir erst den Wagen gewaschen und sind dann zur zweiten Halbzeit ins Stadion gegangen – da kostete es nichts mehr. So sind wir zu den Lilien auf die Gegengerade gekommen. Damals waren vielleicht 3000 Leute im Stadion – das war eine andere Welt als heute.

Wenn Sie die gesellschaftliche Bedeutung des Fußballs betrachten: Welche sozialen und gesellschaftlichen Prozesse spiegelt er?

Fußball ist ein Ideologieträger. Er hat eine klare gesellschaftliche Dimension und ist immer in diesem Kontext zu lesen. Man sieht es in den Statements der Spieler, die brav sagen, was erwartet wird: „Ich muss mich weiter verbessern.“ „Die Mannschaft steht im Vordergrund.“ Das sind immer die gleichen Phrasen. Damit wird ein bestimmtes Verhalten auch für Betriebe propagiert – ob bewusst oder unbewusst. In den frühen Sechzigerjahren war es wichtig, dass ein Fußballer in der Halbzeit schmutzig war. Das bedeutete, er hatte sich in den Dreck geschmissen, hatte gearbeitet, war fleißig. So wie die Arbeiter in Industrie und Bergbau, die auch nicht sauber aus der Zeche kamen. Fußball spiegelt Realität wider.

Ein Produkt der Industrialisierung?

Ja, Fußball ist in der Industriegesellschaft groß geworden, genau wie Wimbledon oder die Tour de France. Alles entstand im Kontext von Arbeitsteilung und Gewinnmaximierung – das war das Prinzip dahinter. Welche Sportart man wählte, verriet einiges über das soziale Milieu, in dem man lebte. Ein Arbeiter aus Manchester wollte kein Tennisstar werden. Er wollte Fußball spielen.

Wieczorek bei einer Lesung im Stadion am Böllenfalltorprivat

In den Siebzigern sah das schon anders aus.

Da sah man plötzlich eine Figur wie Paul Breitner, der seine Verteidigerposition mit der Mao-Bibel unter dem Arm offensiv interpretierte – ein Symbol für gesellschaftliche Umbrüche. Er hat Ketten gesprengt auf seine Weise.

Fußball wird oft als Brücke beschrieben zwischen Klassen, Generationen, zwischen Arm und Reich, zwischen Groß und Klein. Ist das nur romantisch, oder ist da etwas dran?

Ich glaube, das gab es mal tatsächlich. Heute teilt sich das Stadion in VIP-Logen und Sponsorenbereiche und in Fantribünen. Wo man im Stadion steht oder sitzt, sagt viel über die eigene Position aus. Die Trennung wird immer größer.

Stichwort Jürgen Klopp – er wurde oft als Romantiker des Fußballs beschrieben. Jetzt arbeitet er für Red Bull. Nebenbei sieht man ihn in jedem zweiten Werbespot im Fernsehen. Wie passt das zusammen?

Das hat alle überrascht. Er wirkte bis dahin so glaubwürdig, aber jetzt frage ich mich: Warum macht er das? Er hat doch genug Geld verdient, um seine gesamte Verwandtschaft bis in die siebte Generation zu versorgen. Er beschädigt jetzt seine Reputation, seine Glaubwürdigkeit. Ich denke, da spielt auch etwas anderes mit: Menschen, die zu wenig über sich selbst reflektieren, neigen manchmal zur Selbstsabotage. Ich könnte mir vorstellen, dass er in höherem Alter erkennt, dass er sich damit keinen Gefallen getan hat, sondern in eine Falle getappt ist.

Saudi-Arabien hat den Zuschlag für die WM 2034 bekommen. Besser kann man die Profitorientierung des Fußballs wohl nicht auf den Punkt bringen, oder?

Das ist ein Beispiel für absolute Haltlosigkeit. Ich habe einmal einen Menschen getroffen, der als technischer Mitarbeiter in Saudi-Arabien gearbeitet hat. Er hat erzählt, wie dort Menschen Hände abgehackt wurden, weil sie gestohlen hatten. Das ist keine Zivilisation, wie wir sie verstehen. Eine Weltmeisterschaft dort auszurichten, bedeutet in aller Klarheit: Für Geld tun wir alles.

Sehen Sie gesellschaftliche Gegenbewegungen dazu?

Ja, die gibt es. Die Liebe zu Traditionsvereinen ist so eine Gegenbewegung. Sie zeigt, dass sich viele Menschen nach etwas anderem sehnen. Traditionsvereine haben eine Kultur, Geschichte, die mit der persönlichen Geschichte der Fans verbunden ist. Saudi-Arabien hat nichts mit Fußballkultur zu tun – nur mit Geld.

Traditionsargumente wirken im Fußball manchmal befremdlich. Dortmund hat mit Rheinmetall ein Rüstungsunternehmen als Sponsor, und die Bayern haben lange für Qatar geworben.

Aber die Fans sind dagegen. Man kann bei Borussia Dortmund einiges kritisieren, und doch bleibt es für viele Stahl und Bier – auch wenn kaum noch Stahl produziert wird. Das ist Tradition. Das ist unsere Herkunft. Das war der Opa. Wenn man unter Fußballfans eine Abstimmung machen würde, ob die WM in Saudi-Arabien stattfinden soll, dann würden die Leute Nein sagen. Aber sie werden nicht gefragt.

In Ihrem Buch rücken Sie den Fußball nah an die abstrakte Malerei, an Künstler wie Hans Hartung. Warum diese Analogie?

Das war die Ausgangsidee meines Buches: Fußball einerseits als reale Dynamik, andererseits als abstrakte Struktur zu begreifen. Ich wollte untersuchen, ob sich die Geschichte der Abstraktion in der Malerei auf das Spiel übertragen lässt. Dabei stellte sich die Frage: Kann man Fußball abstrahieren und neue Einsichten gewinnen? Erst während des Schreibens bin ich auf das Kernthema gestoßen – das „Spiel ohne Ball“.

Mehr als ein Sport: Fußball ist für Wie­czorek Gesellschaftsabbild.
Mehr als ein Sport: Fußball ist für Wie­czorek Gesellschaftsabbild.Rainer Lind

Der Ball als Nebensache, um größere Muster sichtbar zu machen?

Genau. Das „Weiße Ballett“, wie Real Madrid oft genannt wird, ist ja ein Paradebeispiel dafür. Was die Zuschauer wirklich lieben, sind die eleganten Schlenzer, die tiefen Pässe, die überraschenden Laufwege, die geometrischen Formen, die Suche nach freien Räumen und die Spielgestalter, die schneller denken und handeln als andere. Das alles ist spannender als ein zufälliges 1:0 in der Nachspielzeit. Die Verdichtung von Räumen, das Spiel mit Möglichkeiten – das erinnert an den Transformationsprozess in der abstrakten Malerei. Der Ball wird fast nebensächlich, wenn man die Muster des Spiels betrachtet.

Ist Guardiolas Ballbesitzfußball eine Art von Kunst?

Abstrakte Kunst steht für eine Form der Kunst, die mit Struktur und Chaos spielt. In gewisser Weise sehe ich Parallelen zum modernen Fußball, besonders in der Spielweise von Pep Guardiola. Es ist eine Form von Kunst, bei der man versucht, das Spiel gleichzeitig zu beherrschen und Raum für Überraschungen zu schaffen. Die Spannung zwischen Kontrolle und Chaos ist, wie ich es sehe, eine Art Balance, die in der abstrakten Kunst und im Fußball eine Rolle spielt.

Guardiolas Ansatz ist in der Premier League ins Trudeln geraten. Gegen Ende des vergangenen Jahres hat er viele Spiele mit Manchester City verloren.

Alle hätten ausgeschlossen, dass er sieben Spiele nacheinander verliert. Jeder hätte dagegen gewettet, jeden Betrag. Aber auch Guardiola muss sich immer wieder neu erfinden. Das kennt man auch von der Musik. Im Jazz müssen sie sich auch immer wieder neu erfinden, sonst hört der Jazz auf, Jazz zu sein. Sonst wird er Fahrstuhlmusik. Auch ein Trainer muss seine Spielidee weiterentwickeln. Die falsche Neun gibt es bei Guardiola seit Haaland ja auch nicht mehr.

Wenn Sie sich die sogenannte „Fankultur“ anschauen. Was hat sich da verändert?

Sie hat sich gewaltig verändert. Früher war der Stadionbesuch eine ruhige Angelegenheit. Ein paar Zwischenrufe, viel weniger Ritual. Heute gibt es eine völlig andere Intensität, die mit den gesellschaftlichen Veränderungen zusammenhängt. Fußball ist zu einem Event geworden, das weit über das Spiel hinausgeht.

Geht es auf den Rängen noch um Fußball oder schon um ganz anderes?

Ich kann diese Frage ehrlicherweise nicht beantworten. Es gibt sehr große Unterschiede zwischen den Vereinen. Bei den Darmstädtern ist die Chemie eine andere als bei Schalke und bei Schalke noch mal eine andere als bei Hansa Rostock. In den Siebzigerjahren kamen selbst bei attraktiven Spielen viel weniger Zuschauer als jetzt. Fußball hat heute eine völlig andere Bedeutung als damals. Wahrscheinlich ist das Leben eintöniger geworden, und der Fußball kann ihm eine gewisse Aufregung geben. Aber ich habe keine wirkliche Antwort.

Gewachsen sind der Einfluss und die Macht der Fans. Es ist ja nicht lange her, da haben die Darmstädter Spieler und Trainer Lieberknecht nach einer Niederlage beim Vorschreier der Fans antanzen müssen, der sie dann minutenlang zusammengestaucht hat.

Das hätte der Breitner niemals mitgemacht.

Heute ist das in die absurd hohen Gehälter offenbar eingepreist.

Ja, heute heißt es, wir verdienen sehr gut, und das sind eben die Bedingungen. Das ist ein Lehrprogramm auch für dort, wo solche Mechanismen nicht wirklich erkannt werden. So argumentieren heute auch viele Angestellte: Ich verdiene gut, mache das ein paar Jahre – und nehme dafür alles in Kauf.

Zum Schluss: Was können wir von Darmstadt 98 in dieser Zweitligasaison noch erwarten?

Da bin ich optimistisch. Ich würde mich nicht wundern, wenn die Lilien am Ende auf dem Relegationsplatz landen. Sie haben eine wirklich gute Mannschaft und mit Florian Kohfeldt einen sehr guten Trainer.

Thorsten Lieberknecht hat mit derselben Mannschaft fast jedes Spiel verloren, weil er sie defensiv spielen ließ. Kohfeldt lässt sie offensiv spielen, und plötzlich gewinnt sie fast jedes Spiel.

Was Kohfeldt macht, wirkt plausibel und schlüssig. Lieberknechts Taktik, in der zweiten Liga weiter defensiv zu spielen, war ein Fehler. Dadurch haben die Spieler den Mut verloren. Mit Kohfeldt haben sie ihn wiedergefunden.

Rainer Wieczorek: „Spiel an der Außenlinie. Eine Abstraktion“, Dittrich Verlag 2023, 121 Seiten. 22 Euro.

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