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Jupp Heynckes: Die vielleicht unfassbarste Trainer-Entlassung der Fußballgeschichte | ABC-Z

Jupp Heynckes erlebte 1998 ein außergewöhnliches Jahr bei Real Madrid. Sein Aufenthalt in Spanien war geprägt von Höhen und Tiefen, die bis heute in Erinnerung bleiben. Vor allem das Ende nach dem größten Triumph im europäischen Klubfußball.

Es hätte ihm vielleicht eine Warnung sein müssen. Denn in den ersten zweieinhalb Jahren seiner Amtszeit hatte Lorenzo Sanz, Präsident von Real Madrid, mit Jorge Valdano, Vicente del Bosque, Arsenio Iglesias und Fabio Capello das Who’s who der Trainergilde gnadenlos gefeuert. Doch Jupp Heynckes schreckte das alles nicht ab. Und so ging Don Jupp, wie ihn die Spanier seit seiner Zeit als Trainer von Athletic Bilbao (1992 bis 1994) nannten, in die Geschichte ein als Trainer, der 1998 die Champions League gewann – und gefeuert wurde. Quasi als Dankeschön, dass er den Königlichen nach 32 Jahren vergeblichen Anlaufs wieder den größten aller Pötte geschenkt hatte – mit 1:0 gegen den großen Favoriten Juventus Turin.

Doch Heynckes hat nicht eine Sekunde daran gedacht, beleidigt zu sein. Er hatte zunächst andere, größere Sorgen. Ehefrau Iris erlitt wegen des ganzen Wirbels einen Schwächeanfall, musste ins Krankenhaus transportiert werden. Als ich, der Autor dieses Artikels, Heynckes aufgespürt hatte, erzählte er eine wunderbare Geschichte: Als er seine Frau besuchte, stand Sanz am Krankenbett. Zusammen mit seiner Ehefrau, die sich anbot, die Nacht über bei Iris Heynckes zu verbringen.

„So ist es in Spanien. Job ist Job, Mensch ist Mensch“, sagte Heynckes damals. Und verteidigte Sanz sogar: „Als Präsident hat man es bei Real noch schwerer als der Trainer.“ Was Sanz dazu veranlasste, in seinen restlichen zweieinhalb Jahren als Präsident weiter zu feuern. Obwohl die Trainer wieder vom Allerfeinsten waren: José Antonio Camacho, Guus Hiddink, John Toshack und ein zweites Mal del Bosque, der mit Günter Netzer und Paul Breitner noch das weiße Trikot im Real-Mittelfeld getragen hatte. Gefeuert von jenem Sanz, der als Kind mit seiner Mutter im Bernabéu-Stadion Wasserflaschen verkaufte, um das tägliche Brot zu sichern.

Mit dem Abstand von heute sagt Heynckes: „Der Trainer-Verschleiß ist ein ganz normaler Ablauf bei Real Madrid. Capello wusste es (hatte im Finale 1994 mit der AC Mailand den FC Barcelona 4:0 besiegt; d. Red.) genauso wie Miguel Muñoz in den erfolgreichen Sechzigern (Real-Trainer von 1960 bis 1974). Es sind vor allem die Directivos (eine Art Aufsichtsrat), die einen brodelnden Kessel entfachen. Ein Kessel, in dem keine Wärme zu spüren ist. Indem sie wie Halbgötter regieren.“ Wobei es Heynckes als sehr angenehm empfand, wie toll sich der Präsidentensohn Fernando Sanz verhielt, der zum Kader gehörte und im Halbfinale gegen den BVB Innenverteidiger spielte.

Geniestreich von Heynckes

Im Gegenzug bekam Heynckes auch die positive Seite zu spüren: Dass der Trainer-Job bei Real Madrid ein Schleudersitz nach oben sein kann. So folgte seinem ersten Trainer-Job bei Bayern (1987 bis 1991) in München ein zweiter, dritter, vierter, gekrönt 2013 mit dem Triple. Zuletzt trainierte der Rheinländer noch als 72-Jähriger, entfaltete seine volle Reife. Ich bin mir sicher: Er könnte es heute noch, kurz vor Vollendung seines 80. Lebensjahres. Und wenn sie ihn auf den Platz tragen müssten.

Was Heynckes in einem Jahr bei Real Madrid erlebte, das reichte für ein ganzes Leben. Der Stoff könnte Drehbücher füllen – für Spiel- wie für Lehrfilme.

1998 hielt sich das Gerücht – Real war auf Platz vier zurückgefallen –, Heynckes könne mit den Spielern nicht. Zu Sanz habe er vor dem Finale gesagt, die Spieler seien „Hijos de puta“ (Hurensöhne). Was für ein Eigentor, wenn es gestimmt hätte. „Ich habe so was nie gesagt“, versichert Heynckes. „In Spanien fällt schnell mal das Wort ‚puta‘. Doch ich habe die Spieler sehr geschätzt, auf ein vernünftiges Verhältnis geachtet.“ Das Einzige, was den Deutschen störte, waren Artikel in Klatschblättern, die über das Nachtleben der Spieler berichteten, insbesondere über das große Talent Guti in „Transvestiten-Bars“. Damals in Spanien, gut zwei Jahrzehnte nach dem Diktator Francisco Franco, war das ein Aufreger. Für Heynckes waren es eher Kleinigkeiten, die sich hochgeschaukelt hatten. „Zum Beispiel, dass ich Hierro und Redondo zum Abschiedsspiel von Franco Baresi nach Mailand habe reisen lassen. Ausgerechnet vor dem Spiel gegen den Erzrivalen FC Barcelona. Weil wir das verloren, wurde ich zum Sündenbock gestempelt.“

Doch in den Spielen der Champions League blühte die Mannschaft regelmäßig auf. Nach den Siegen über Bayer Leverkusen im Viertel- und Titelverteidiger Borussia Dortmund im Halbfinale baute Heynckes die Mannschaft um. Er sprengte seine Doppelsechs mit Fernando Redondo („Dem Argentinier brauchte man nichts zu sagen, der hatte den Kopf immer oben“) und Clarence Seedorf. Den Holländer zog Heynckes nach rechts raus. Dafür rückte Christian Karembeu nach innen und kümmerte sich um Turins Zinédine Zidane (ab 2001 selbst ein Madrilene). „Weil Karembeu Zidane sehr gut von der französischen Nationalmannschaft kannte.“ Ein Geniestreich von Heynckes, der das Spiel entschied. „Nach 20 Minuten hat er ihn immer besser in den Griff bekommen. Und Seedorf konnte Druck entfachen über rechts.“

Normalerweise ließ der Holländer so was nicht mit sich machen. „Er war nicht einfach. Doch ich habe mit ihm nie Probleme gehabt“, versichert Heynckes. „Er sagte zu mir: ‚Mister, wenn das für die Mannschaft besser ist, dann spiele ich dort.‘ Ein exzellenter Fußballer, der sich selbst hinterfragte, wenn er mal nicht so gut war. Nicht umsonst hat er viermal die Champions League gewonnen.“ 1995 mit Ajax Amsterdam, 1998 mit Real, 2003 und 2007 mit der AC Mailand.

„Er war ein Freund“

Als das Werk vollbracht war, legte Seedorf den Arm um Heynckes. Raúl, der Fußballgott Spaniens (spielte von 2010 bis 2012 für Schalke), kritisierte, nachdem Real Heynckes gefeuert hatte, die Directivos: „Ich kann nicht verstehen, dass sie ihn entlassen haben.“ Und Linksverteidiger Roberto Carlos, der mit den wuchtigsten Oberschenkeln, hätte den Deutschen am liebsten ganz fest gedrückt. „Nicht nur als Trainer und Taktiker war er ein Fuchs. Er stand uns Spielern sehr nahe. Er war ein Freund“, so der Brasilianer.

Zu einem Spieler hatte Heynckes ein besonderes Verhältnis. „Er war ein guter Kerl, und er mochte mich“, erzählte Predrag Mijatovic, der Schütze des entscheidenden 1:0, der „SZ“. „Einmal kam er nach einem Training zu mir und sagte, dass er mich für einen der besten, komplettesten Stürmer der Welt halte. ‚Und ich sage das jetzt nicht, weil ich dein Trainer bin‘, meinte er. Er war ja auch ein großer Stürmer gewesen. Ich habe viel von ihm gelernt.“

Dann erzählt Mijatovic eine schier unglaubliche Geschichte. Er habe 48 Stunden vor dem Anpfiff beim Sprungtraining einen Stich im rechten Schussbein gespürt. „Heilige Mutter Gottes“, dachte er. Er sei mit seinem Muskelfaserriss zu Masseur Pablo Chueca halb gerannt, halb gehumpelt, habe ihm gedroht: „Ich will unbedingt spielen. Wenn jemand davon erfährt, muss ich dich töten.“

Das Abschlusstraining absolvierten die Spieler nur mit Socken, er jedoch habe sich Schuhe und lange Stutzen angezogen, damit man den Verband nicht sieht. „Aberglauben“, sagte er zu den anderen. Als Heynckes fünf Leute auswählte, um das mögliche Elfmeterschießen zu üben, flüchtete er in die Kabine und rief: „Mister, wir gewinnen ohne Elfer.“

Als in der 66. Minute mit Raúl und Morientes der Angriff über rechts lief und Panucci flankte, konnte Karambeu mit dem Ball nichts anfangen, er landete links bei Roberto Carlos – und ausgerechnet der traf ihn nicht richtig.

„Zum Glück“, so Mijatovic, „der Ball wurde abgefälscht, lag mir zu Füßen. An meinem verletzten rechten Bein. Ich wollte nicht durchziehen. Im Augenwinkel sah ich, dass ein Verteidiger heranrauschte. Da habe ich den Ball mit links gelupft.“ Über Torwart Peruzzi hinweg zum 1:0.

Heynckes übrigens hatte sich von Mijatovic nicht täuschen lassen. Zu SPORT BILD sagt er: „Mich hat noch nie jemand ausgetrickst. Ich habe meine Spieler immer beobachtet, wusste immer Bescheid. Bin selbst früher Spieler gewesen, weiß, was vor so einem großen Spiel in einem vorgeht. Da will man spielen. Bei Mijatovic war das genauso. Nach dem Motto: Ich beiß mich durch. Schließlich hat er gespielt und das entscheidende Tor gemacht.“

Wenn das kein Stoff für einen Spielfilm ist …

Der Text wurde für das Sport-Kompetenzcenter (WELT, SPORT BILD, BILD) erstellt und zuerst in SPORT BILD veröffentlicht.

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