Jugendbericht der Regierung: Warum Sachverständige die Abkehr vom Begriff „Migrationshintergrund“ fordern | ABC-Z
Der Kinder- und Jugendbericht der Ampel betont, dass junge Menschen in einer Gesellschaft voller Gegensätze aufwachsen. Die Autoren finden, der Begriff „Migrationshintergrund“ wecke dabei falsche Assoziationen. Die Bundesregierung lobt das als „wertvollen Beitrag“.
Die Bundesregierung ist gesetzlich dazu verpflichtet, in jeder Legislaturperiode einen Kinder- und Jugendbericht vorzulegen. Der Report einer Sachverständigenkommission, den Familienministerin Lisa Paus (Grüne) am Mittwoch präsentierte, ist bereits der 17. Und die Lage der Kinder und Jugendlichen hat sich seit dem ersten Bericht im Jahr 1965 fundamental verändert.
Damals herrschte Babyboom in Deutschland, die Zahl der Unter-20-Jährigen überstieg die Zahl der Senioren über 65 Jahren um ein Vielfaches. Seit 2006 ist das Verhältnis gekippt: Inzwischen werden jedes Jahr doppelt so viele 60. Geburtstage wie erste Geburtstage gefeiert, betonte Paus. Und je spärlicher der Nachwuchs wird, desto größer scheint der Eifer, etwas über die Generation zu erfahren, auf der in der alternden Gesellschaft so viele Hoffnungen und Erwartungen ruhen.
Doch auch das stellte Paus klar: „Die ,Generation Z’ gibt es nicht. Die heutige junge Generation in Deutschland ist die diverseste, die es je gab.“ Gemeinsam sei jungen Menschen allerdings der Wunsch nach Orientierung und Sicherheit.
Derzeit jedenfalls falle der Blick in die Welt und ihr eigenes Leben kritisch aus, sagte Paus. „Die Folgen von Krieg und Klimakrise, weltweite Fluchtbewegungen und auch die Nachwirkungen der Pandemie oder der Fachkräftemangel in so vielen Arbeitsbereichen belasten Kinder und junge Menschen erst recht, wenn sie das Gefühl haben, mit ihren Sorgen und mit ihren Bedürfnissen in der Politik nicht vorzukommen.“ Dringend notwendig sei deshalb die Absenkung des Wahlalters auf 16 Jahre auch für Bundestagswahlen; die Forderung findet sich auch im Koalitionsvertrag der Ampel.
Der mehr als 700 Seiten starke Bericht wurde im Auftrag der Bundesregierung von einer unabhängigen Sachverständigenkommission erstellt. Vor allem hat das Gremium vorhandene Studien und Erkenntnisse zusammengeführt und ausgewertet. Zusätzlich haben die Autoren ein Stimmungsbild unter den Betroffenen selbst erhoben: Mehr als 5400 Kinder und junge Menschen von fünf bis 27 Jahren wurden durch Workshops und Befragungen eingebunden.
Weg mit dem Begriff „Migrationshintergrund“?
Der Bericht zeichnet das Bild einer Jugend, die unter sehr unterschiedlichen sozialen Bedingungen aufwächst, mit großen Unterschieden zwischen Stadt und Land, Ost und West, Religion und Weltanschauung, sexueller Orientierung und kultureller Herkunft. 41 Prozent der Kinder unter sechs Jahren und 37 Prozent der schulpflichtigen Kinder und Jugendlichen stammen inzwischen aus Familien mit Einwanderungsgeschichte.
In der Folge macht die Kommission den weitreichenden Vorschlag, sich von der statistischen Kategorie „Migrationshintergrund“ abzuwenden. Dieser Begriff suggeriere eine „homogene, nicht zur Mehrheitsgesellschaft gehörende Personengruppe“, heißt es in dem Bericht. Stattdessen zeige man auf, dass Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene „mit unterschiedlichen Nationalitäten, ethnischen Identifikationen und kulturellen Zugehörigkeiten ausgestattet sind – in verschiedenen Kombinationen und mit einem individuellen Maß der persönlichen Identifizierung“.
In ihrer am Mittwoch vom Kabinett verabschiedeten Stellungnahme begrüßte die Bundesregierung diesen Vorschlag: „Die konsequente Abwendung der Kommission vom statistischen Merkmal ,Migrationshintergrund’ als pauschale Differenzkategorie zur Beschreibung scheinbar geteilter natio-ethno-kultureller Zugehörigkeit ist aus Sicht der Bundesregierung ein wertvoller Beitrag für die weitere Diskussion in diesem Bereich.“ Der steigende Anteil junger Menschen, die in Einwanderungsfamilien aufwüchsen, habe Auswirkungen auf das Zusammenleben aller jungen Menschen in Deutschland. „Die Bundesregierung teilt die Einschätzung, dass es Aufgabe aller ist, in dieser Einwanderungsgesellschaft ,anzukommen’.“
Allerdings, auch das gesteht die Bundesregierung in ihrer Stellungnahme ein, sei man sich bewusst, dass junge Menschen in Deutschland in einer Zeit „tiefgreifender, teils krisenhafter Entwicklungen“ aufwüchsen, die „von Unsicherheit und einem hohen gesellschaftlichen Transformationsdruck“ geprägt sei. „Die Krisen der vergangenen Jahre haben bei vielen auch seelische Spuren hinterlassen.“ Kriegerische Bedrohungslagen, die Fluchtmigration und der Klimawandel würden als „fundamental und dauerhaft“ erlebt, beim Ringen um Prioritäten sehe die junge Generation ihre Belange nicht ausreichend beachtet.
In diesen Sätzen spiegelt sich auch Selbstkritik. Denn vor allem das Agieren in der Corona-Pandemie mit Kita- und Schulschließungen und sozialer Isolation junger Menschen rügte die Sachverständigenkommission hart: „Viele junge Menschen fühlten sich als bloße Objekte der Pandemie-Politik, deren Bedürfnisse in den politischen Entscheidungsprozessen vernachlässigt wurden.“
Die psychischen Belastungen hätten als Spätfolge der Corona-Pandemie zugenommen, sagte die Kommissionsvorsitzende Karin Böllert von der Universität Münster. „Wir haben noch nie so viele junge Menschen gehabt, die sich einsam fühlen. Für sie hat die Pandemie gefühlt kein Ende gefunden, weil sie viele soziale Kontakte verloren haben.“ Die psychosoziale Unterstützung für junge Menschen müsse daher dringend ausgebaut werden. Im derzeit in Arbeit befindlichen Versorgungsstärkungsgesetz seien daher auch Sonderzulassungen für Kinder- und Jugendtherapeuten vorgesehen, um den Versorgungsengpass abzumildern, versprach Paus.
Der Bericht zeigt allerdings nicht nur negative Entwicklungen auf. So wird das Verhältnis innerhalb der Familie als sehr positiv beschrieben. „Die heutige junge Generation neigt dazu, Erziehungsstile ihrer Eltern zu schätzen und sich bei Problemen an sie zu wenden“, heißt es im Bericht. Ihre persönlichen Beziehungen zu Personen aus anderen Generationen würden als „bedeutungsvoll und positiv, als erfüllend und stärkend“ beschrieben.
Nach dem gesamtgesellschaftlichen Generationen-Verhältnissen gefragt, seien die Bewertungen jedoch deutlich negativer ausgefallen, heißt es weiter. „Wie sich die Demografie in Deutschland genau entwickeln wird, hängt maßgeblich von Entscheidungen in Bereichen der Migrations-, Asyl-, Bildungs-, Familien- und Sozialpolitik ab. In all diesen Politikfeldern stehen Entscheidungen von weitreichender Bedeutung an, die für das Generationengefüge insgesamt, vor allem aber für die Lebensperspektiven der jüngeren Generationen in einer alternden Gesellschaft erhebliche Auswirkungen haben können.“
Politikredakteurin Sabine Menkens ist bei WELT zuständig für die Themen Familien-, Gesellschafts- und Bildungspolitik.