Jüdischer Friedhof Berlin-Weißensee: Für alle Ewigkeit | ABC-Z
Wo liegt noch mal Frau Pitschpatsch? Irgendwo weit hinten, am Rande des Jüdischen Friedhofs in Berlin-Weißensee, steht ihr Grabstein. Ich muss erst etwas suchen, dabei kenne ich das Grab schon lange. Seit 20 Jahren bin ich zwei- oder dreimal im Jahr für einen Spaziergang hier, durchstreife und umrunde das Gelände. Es ist etwa einen Kilometer lang und einen halben Kilometer breit.
Je weiter man sich vom Haupteingang in der Herbert-Baum-Straße 45 entfernt, um so verwunschener wird das Areal. Die Natur macht in weiten Teilen des Friedhofs was sie will, schon seit Jahrzehnten – man sieht es vielen dicken Stämmen an. Neben den angepflanzten Alleebäumen an den zahlreichen Wegen herrscht viel Wildwuchs mit Bäumen, Büschen, Efeu, wuchernden Rosen, Gräsern und Moos. Natürlich gibt es – vor allem im vorderen Bereich – auch sorgsam gepflegte Bereiche.
Das Grab von Henriette Pitschpatsch wurde 1931 angelegt. Geboren wurde sie irgendwann in den 1860er-Jahren – die letzte Zahl beim Geburtsdatum ist mit der Zeit verschwunden. Sonst steht nichts auf dem großen, grauen und völlig schnörkellosen Stein. Obenauf liegen die für jüdischen Friedhöfe obligatorischen Steine, etliche kleine Kiesel und ein kindskopfgroßer – wer hat den wohl da hingelegt? Das bleibt ein Geheimnis. Genauso wie Frau Pitschpatsch selbst (wenn man der Versuchung widersteht, im Internet nach Spuren zu suchen).
Die Besonderheit
Der 1880 angelegte Begräbnisplatz der Jüdischen Gemeinde zu Berlin im Ortsteil Weißensee ist mit rund 116.000 Grabstellen auf circa 42 Hektar der flächenmäßig größte erhaltene jüdische Friedhof Europas. Nach der Teilung Berlins wurde 1955 im Westteil der Stadt der Jüdische Friedhof Heerstraße im nördlichen Grunewald eingeweiht. Die DDR ignorierte das jüdische Erbe jahrelang, doch 1977 wurde der Jüdische Friedhof Weißensee unter Denkmalschutz gestellt.
Das Zielpublikum
Freunde von Berliner und jüdischer Geschichte, Friedhofskultur – und Ruhe im Großstadtdschungel.
Hindernisse auf dem Weg
Eigentlich keine. Selbst die für einen jüdischen Friedhof obligatorische Kopfbedeckung für den Mann, die Kippa, liegt am Eingang zur Ausleihe parat. Im Winter reicht aber eine Pudelmütze.
Jüdische Gräber sind bekanntlich für die Ewigkeit gemacht, sie werden nicht nach einer bestimmten Liegezeit eingeebnet wie auf einem christlichen Friedhof. Deshalb gibt es hier so viele Grabstellen, es sollen rund 116.000 sein. Und es werden mehr von Jahr zu Jahr, es finden regelmäßig Bestattungen statt. Die Mehrzahl der neuen Grabsteine trägt neben lateinischen auch kyrillische Buchstaben – hier liegen nach dem Mauerfall eingewanderte Juden aus der ehemaligen Sowjetunion.
Zeichen der Zeit
Doch die meisten der Gräber in Weißensee sind viel älter. Das hat seinen Reiz: Die Moden der jüdischen Grabkultur lassen sich hier über die verschiedenen Epochen (bestattet wurde auch zu DDR-Zeiten) bis in die Neuzeit studieren. Was gibt es etwa für ausladende Jungendstilgräber voller buntem Zierrat in Form von Blumen und Blättern! Doch es gibt auch ein Problem: Die für immer und ewig bestehenden Grabstellen sind Wind und Wetter und der Zeit ausgesetzt. Steine fallen um oder werden überwuchert und verschmelzen mit der Natur. Etliche der aufwändig gestalteten Grabstellen mit Säulen, Gruften und Schmuckelementen sehen mit den Jahrzehnten ohne jegliche Pflege desolat aus. Teile brechen ab oder stürzen um, Decken fallen herunter – „Einsturzgefahr“ warnt ein Schild –, Grabplatten sacken ein, Ziffern und Buchstaben und auch Davidsterne brechen ab und verschwinden …
Doch hin und wieder sind Grabmale zu sehen, die saniert wurden: Mal einfache Steine, bei denen die Inschriften erneuert wurden und die nun in Weiß oder Gold leuchten, mal große Grabstätten von einst wohlhabenden Menschen, wie die der Familie Stöckel aus 1910.
Der 1862 in der Ukraine geborene Moritz Stöckel lebte spätestens seit 1883 in Friedenau. Er und sein Bruder Siegmund trugen wesentlich zur Entwicklung des damaligen Berliner Vorortes bei. Sie bauten über 60 Häuser vor dem Ersten Weltkrieg. Familienangehörige beider wurden Opfer des Holocaust.
Zugeggen: Gerade ist von der Grabanlage nicht viel übrig. Die Arbeiten zur Restaurierung und den Wiederaufbau sind seit Monaten im vollen Gange. Außer vielen Holzbohlen ist nicht viel zu sehen. Das Familiengrab war in sich zusammengefallen und in große Stücke zerbrochen, die Fundamente waren durch Bewuchs verschoben. So hatte Lutz Dölle nur noch einen Haufen Steine vorgefunden, erzählt der Steinrestaurator und Bildhauer bei einem Vor-Ort-Termin aus Anlass einer Scheckübergabe. Die Deutsche Stiftung Denkmalschutz (DSD) unterstützt die Arbeiten mit 15.000 Euro. Die Grabanlage gehört seit 2021 zu den 200 Objekten, die die private Stiftung allein in Berlin fördern konnte.
Wie ein Puzzle
Lutz Dölle erzählt, dass Teile der Steinplatten mit der Zeit abhanden gekommen sind. Also hat er recherchiert, wo der Stein einst herkam: aus einem sächsischen Steinbruch. Doch der ist längst geschlossen. In einem benachbarten Steinbruch aber fand er Ersatz, man würde den Unterschied später kaum bemerken.
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Fast alle noch vorhandenen Steinstücke des Grabmals liegen ein paar Meter entfernt in einem Seitenweg wie aufgebahrt, das sieht wie ein überdimensioniertes Puzzle aus. Teile der Metallapplikationen – Girlanden aus Kupferblech – wurden unter Steinen liegend gefunden, sie werden restauriert. Fehlende Buchstaben werden in einer Bronze-Gießerei nachgeformt, die vorhandenen wie auch der Davidstern restauriert. Und das Fundament ist schon fertig. Im nächsten Jahr soll das Grabmal der Stöckels fertig sein und wie früher aussehen. So wie die Grabanlage der Familie Blumenthal gleich nebenan, die wurde bereits restauriert.