Jeremy Scott in Berlin: „Eskapismus ist lebenswichtig“ | ABC-Z

Ein Iced Matcha Latte wartet schon auf einem Tisch im menschenleeren Restaurant des Berliner Friedrichstadt-Palasts. Es ist die Getränkebestellung von Modedesigner Jeremy Scott, der die Kostüme für die neue Show „Blinded by Delight“ entworfen hat, die von diesem Mittwoch an zu sehen sein wird. Als sich der Fünfzigjährige an den Tisch setzt, schwärmt er von der Matcha-Vielfalt in seiner Wahlheimat Los Angeles. Dort gebe es Millionen unterschiedlicher Kombinationen. Am liebsten trinkt er Matcha mit Mandel- oder Hafermilch. Auch die Berliner Variante kommt gut an: Am Ende des Gesprächs ist sie ausgetrunken.
Herr Scott, durch Ihre Arbeit für den Friedrichstadt-Palast haben Sie hier viel Zeit verbracht. Man sagt, dass man Berlin entweder liebt oder hasst. Wie ist es bei Ihnen?
Berlin hat eine großartige Energie, eine tolle Jugendkultur. In den vergangenen Wochen war ich auch in Prag und Zürich – verglichen damit ist Berlin definitiv cooler. Außerdem sind hier so viele verschiedene Kulturen. Man hört überall Englisch. Das bringt Inspiration und neue Perspektiven. Eine Stadt ist wie ein Team, die Vielfalt macht sie dynamisch.
Die Show, für die Sie rund 600 Kostüme entworfen haben, heißt „Blinded by Delight“. Sind Sie gerade selbst von Freude geblendet?
Genauer gesagt waren es 576. Die letzte Zählung ist ein paar Wochen her, vielleicht sind inzwischen noch welche dazugekommen. Und ja – es war eine Freude. Aber auch sehr viel Arbeit. Die Leute kennen meine Entwürfe aus der Modewelt, aber hier gibt es ein Drehbuch, eine Geschichte. Meine Entwürfe müssen der Story dienen und die Charaktere begleiten. Das war eine neue kreative Herausforderung, aber auch sehr spannend. Natürlich gibt es viele Elemente, die typisch für mich und meine Arbeit sind, aber auch Dinge, die ich speziell fürs Theater ausprobiert habe.
Sie haben schon oft Bühnenoutfits für Popstars wie Rihanna, Katy Perry und Madonna entworfen. Hat das beim Designprozess für die Show geholfen?
Ja, denn es hat mir gezeigt, wie unterschiedlich Performer sind. Jede Person hat ihre Eigenheiten, deshalb muss man mit den Künstlerinnen zusammenarbeiten und auf ihre Bedürfnisse eingehen. Um ihren Job zu machen, sollten sie während ihres Auftritts nicht an die Kostüme denken müssen. Zum Beispiel brauchte Björk Bewegungsfreiheit am Zwerchfell, um auf ihre Art singen zu können. Madonna hingegen wollte immer genau das Gegenteil: möglichst zusammengeschnürt und eng anliegend. Jede Person ist unterschiedlich – wegen ihres Körpers, ihres Geists und dem, was ihr ein Gefühl von Komfort und Selbstvertrauen gibt. Aber eine Grand Show ist noch einmal eine kreative Herausforderung, wegen der Geschichte, die erzählt wird. Das hier ist jedenfalls der beste Ort dafür – in diesem Theater mit der unglaublichen Historie und unvergesslichen Künstlern wie Marlene Dietrich, Louis Armstrong und Josephine Baker.
Sie haben mit vielen Popikonen gearbeitet, lange bevor sie weltberühmt wurden. Wie haben Sie das angestellt?
Ja, eine gute Erfolgsbilanz, oder? Nehmen wir Katy Perry. Sie kam einmal auf mich zu, als ich mit Lindsay Lohan unterwegs war, und sagte: „Ich bin Sängerin, du bist mein Lieblingsdesigner, ich hoffe, ich darf eines Tages etwas von dir tragen.“ Seitdem habe ich sie für Album-Release, Super Bowl, Met Galas eingekleidet. Oder Sabrina Carpenter: Vor zwei Jahren wollte sie unbedingt ein bestimmtes Kleid für ihre ersten Video Music Awards, heute ist sie die neue Pop-Prinzessin. Ich vertraue meinen Instinkten und dem Enthusiasmus der Leute, die auf mich zukommen. Ich höre einfach darauf, was sich richtig anfühlt.
Wer wird der nächste große Star, den nur Sie schon kennen?
Momentan habe ich niemanden. Mein letzter Tipp war Doechii. Sie sagte kürzlich zu mir: „Du hast mich eingekleidet, bevor es sonst jemand getan hat.“ Rihanna sagt dasselbe. Heute zahlen Marken Millionen dafür, dass sie etwas von ihnen trägt.
Können Sie sich an die erste Begegnung mit Madonna erinnern?
Klar, das war toll. Sie hatte schon Stücke von mir getragen, aber wir kannten uns noch nicht persönlich. Ich kam zu einer Anprobe für das Video „Die Another Day“, für das ich zwei Kostüme entworfen hatte. Sie begrüßte mich sehr charmant: „Hallo, ich bin Madonna!“ Sie ist unglaublich: nie zufrieden, immer auf der Suche, das bewundere ich.
Ihre Designs sind laut, glamourös, voller Pop-Art. Sie entführen in eine Phantasiewelt. Was lieben Sie daran?
Eskapismus ist wichtig – lebenswichtig. Klar, ich mache keine Gehirnchirurgie. Trotzdem sind Kreative sehr wichtig, weil die Menschen eine Pause von den Dingen brauchen, die in der Welt passieren. Ich will Freude schenken und die Menschen kurz aus dem Alltag holen.
Wir Deutschen gelten nicht als besonders glamourös. Würden Sie sagen, wir könnten mehr Glamour vertragen?
Ich weiß nicht. Berlin ist keine glamouröse Stadt, das merkt man sofort, wenn man hier ankommt. Ja, Berlin ist dreckig, rau, cool. Ich finde, das passt. Ich würde daran nichts ändern wollen: Berlin ist so, wie es sein soll.

Ein Deutscher, der auf jeden Fall Glamour hatte, war Karl Lagerfeld. Er gilt als Ihr Mentor. Wie war Ihre persönliche Verbindung zu ihm?
Ich habe ihn geliebt. Ich hatte das große Glück, dass er mich schon früh in meiner Karriere unterstützte. Gerade in einer Branche, in der so viel Misstrauen herrscht, in der man sich ständig fragt, ob etwas Bestand haben wird, war es wichtig, jemanden wie ihn an meiner Seite zu wissen. Karl war so etabliert, dass allein seine Nähe ein Signal nach außen war. Der Kontrast war damals für mich surreal: Noch kurz zuvor war ich mit dem Fahrrad durch Paris gefahren und teilte mir eine kleine Wohnung, weil ich gerade erst aus dem College kam – und plötzlich flog ich mit ihm im Privatjet nach Monaco oder Rom, um ihn bei seiner Arbeit für Fendi zu begleiten. Das war eine andere Welt! Ich habe die Zeit sehr geschätzt. Mir war aber immer bewusst, dass nichts ewig dauert, deshalb wollte ich jeden Moment bewahren. Unvergessen bleiben auch die Stunden bei Chanel, bei den Anproben, den Fotoshootings oder einfach bei der Arbeit. Ich erinnere mich an eine Szene: Das Model stand 20 Meter entfernt, Karl trug seine Sonnenbrille, und er sagte: „Da steckt noch eine Stecknadel drin.“ Und tatsächlich – er hatte recht.
Damals hat er sogar gesagt, Sie könnten Chanel als Designer übernehmen. Könnten Sie sich das vorstellen?
Ich kann mir viele Dinge vorstellen, und das könnte durchaus dazugehören. Ich war unglaublich geschmeichelt, als er das sagte. Er hat das sogar ziemlich oft gesagt. Gleichzeitig war mir bewusst, dass er Chanel nicht besitzt und die Entscheidung nicht bei ihm lag. Die Geste war für mich das Wichtigste. Dass er so hoch von mir dachte, mich so kreativ einschätzte und sich so sehr von meiner Energie inspirieren ließ, dass er es als passende Nachfolge empfand – das bedeutet mir sehr viel. Ich brauche Chanel nicht. Ich brauche diese Rolle nicht. Aber wertvoll ist für mich, dass er es gesagt hat. Das gehört für immer mir. Niemand kann mir das nehmen.
Wie sind Sie überhaupt zur Mode gekommen?
Ich habe mich schon immer gern durch Mode ausgedrückt. In der Highschool habe ich viel mit Keramik gearbeitet und Skulpturen gemacht, auch handgemachte Papierskulpturen – ich dachte damals, vielleicht werde ich Keramiker. Aber meine Kunstlehrerin meinte: „Du liebst Mode, du zeichnest ständig Klamotten, du stellst Kleidung für deine Freunde her – du solltest auf eine Modeschule gehen.“ Ich war mir aber unsicher. Sie hat mich dann ein wenig in diese Richtung geschubst, und schließlich bin ich am Pratt Institute in New York gelandet, einer Kunsthochschule. Dort musste ich all die Dinge lernen, die ich noch nicht konnte, die langweiligen Grundlagen, die man aber braucht: Kleidungsstücke konstruieren, Schnitte anfertigen, nähen, alles zusammenfügen. Nach und nach wurde Mode mein Medium. Ich habe Ton und Keramik hinter mir gelassen und quasi angefangen, mit Stoffen und Kleidung zu modellieren. Letztlich bin ich ein Kommunikator. Und um zu kommunizieren, benutze ich Mode. Hoffentlich kann ich damit das Leben von Menschen berühren. Wenn es einen emotionalen Eindruck hinterlassen hat, bedeutet es mir sehr viel.

Welche Modemacher außer Lagerfeld haben Sie geprägt?
Jean Paul Gaultier. Er war mein Lieblingsdesigner, als ich aufwuchs. Er wirkte cool, als könnte man mit ihm abhängen, als wäre er ein älterer Freund. Ich glaube, er hat mir geholfen, den Schritt zu wagen, Designer zu werden.
Wir leben in einer Zeit, in der modisch schon so viel passiert ist. Kann man heute mit einem Outfit überhaupt noch schockieren?
Immer. Denn es geht ja um den Kontext: den Zeitpunkt, den Ort. Es war aber übrigens nie mein Ziel, Menschen zu schockieren, auch wenn ich es manchmal getan habe. Ich wollte immer zeigen, was ich liebe, an was ich glaube und was ich sehen möchte.
Wie war die Arbeit für den Friedrichstadt-Palast? All diese glitzernden Elemente, die Swarovski-Kristalle – brachten die Schwierigkeiten mit sich?
Swarovski ist der am wenigsten komplizierte Teil meiner Arbeit. Schon Marilyn Monroe sagte: „Diamonds are a girl’s best friend“. Ich sage: „Swarovski ist der beste Freund eines Designers.“ So kann ich den Kleidungsstücken Glanz verleihen und den Look definitiv auf eine höhere Ebene bringen – besonders auf der Bühne, wenn das Licht darauf fällt. Ich arbeite seit meiner dritten Modenschau mit ihnen zusammen, damals hatte Isabella Blow mich Nadia Swarovski vorgestellt. Zuerst waren es kleine Details, dann immer aufwendigere Stücke – bis hin zum Kronleuchter-Kleid für Katy Perry bei der Met Gala, das komplett aus Swarovski-Kristallen bestand.
Haben Sie ein Lieblingskostüm der Show?
Das ist, als würde man eine Mutter fragen, welches Kind sie lieber mag. Heute mag ich vielleicht dieses eine mehr, weil das andere unartig war – aber im Grunde liebe ich all meine Kinder. Manche Kostüme sind Neuinterpretationen von Dingen, die ich in früheren Kollektionen gemacht habe. Deshalb habe ich zu manchen Entwürfen eine starke emotionale Bindung. Und dann gibt es neue Designs, von denen ich begeistert bin.
Ist diese Show auch eine Art Jeremy-Scott-Retrospektive?
Das könnte man so sagen. Das hatte sich übrigens auch der Regisseur von mir gewünscht: ein paar Entwürfe aufzugreifen, die prägend für meine Karriere waren. Für Superfans wird es aufregend sein, Dinge zu sehen, die sie kennen, aber noch nie live gesehen haben.



















