Tod nach Narkose – Wenn Ärzte pfuschen | ABC-Z

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In den vergangenen zehn Jahren sind 21 Patienten nach Vollnarkosen in Arztpraxen gestorben, weil ärztliche Standards ignoriert wurden. Das zeigen Report Mainz-Recherchen. Sechs Patienten erlitten demnach schwere Hirnschäden.
Die sechsjährige Sophia hatte Karies zwischen den Backenzähnen. Weil sie Angst vor dem Zahnarzt hatte, habe ein Kinderzahnarzt zu einer Behandlung unter Vollnarkose geraten, berichtet ihre Mutter im Interview mit Report Mainz. Doch Sophia erlitt unter der Narkose einen Herzstillstand, sie starb wenige Tage später im Krankenhaus. Ihr Gehirn hatte über einen zu langen Zeitraum keinen Sauerstoff erhalten.
Sophias Mutter, Claudia Alter, trauert sehr über den Verlust ihres einzigen Kindes. Sie ist überzeugt, der Tod ihrer Tochter wäre vermeidbar gewesen. Sie erhebt starke Vorwürfe: “Sie ist tot, weil ein Arzt das in Kauf genommen hat.”
Der Narkosearzt wurde bislang nicht angeklagt, er gilt als unschuldig. Die Staatsanwaltschaft ermittelt seit fünf Jahren gegen den Narkosearzt. Sie geht dem Verdacht nach, dass sich der Anästhesist zum Zeitpunkt der Beendigung der Narkose nicht im Behandlungszimmer befunden haben soll.
Aus einem anästhesiologischen Sachverständigengutachten, das Report Mainz vorliegt, geht hervor: Der Arzt habe während der sogenannten Narkoseausleitung Beratungsgespräche mit anderen Patienten für weitere Narkosen geführt. Als er von der Assistentin hinzugerufen wurde, soll Sophias Herz bereits mehrere Minuten lang stillgestanden haben. Der Narkosearzt will sich aufgrund des laufenden Verfahrens nicht auf Fragen von Report Mainz äußern.
Anwesenheit zwingend
Die Ausleitung einer Narkose ist für Patienten besonders gefährlich. Binnen kürzester Zeit kann es zu lebensbedrohlichen Komplikationen kommen. Ein Narkosearzt muss darum während der Ausleitung zwingend anwesend sein. Das ist in den Leitlinien der Fachgesellschaften so geregelt.
Dazu kommt, dass es im Fall Sophia dem Gutachten zufolge an einer “maschinellen Beatmung” gefehlt haben soll. Der Arzt soll darüber hinaus “gegen besseres Wissen” eine “mangelhafte technische Ausstattung” verwendet haben, die “sicherheitsrelevante Mängel” aufwies, und in dieser Form nicht hätte betrieben werden dürfen.
Keine standardgerechte Überwachung
Auch die 63-jährige Ute Z. starb nach einer Vollnarkose beim Zahnarzt, im April 2023. Der Narkosearzt wurde Anfang dieses Jahres vom Landgericht Osnabrück zu einer Bewährungsstrafe von zwei Jahren wegen Körperverletzung in Tateinheit mit fahrlässiger Tötung verurteilt. Sowohl die Ausstattung als auch die Vorgehensweise des Arztes hätten “erheblich von den Mindestanforderungen” an Narkoseärzte abgewichen, so das Gericht.
Weder hatte der Arzt das rund 50 Jahre alte Narkosegerät vor der Verwendung überprüft, noch seine Patientin standardgerecht überwacht. Ihm sei dabei “bewusst” gewesen, dass er sich über die fachlichen Standards “hinwegsetzte”, so das Gericht. Der Anästhesist äußerte sich auf Anfrage von Report Mainz nicht dazu.
Keine Meldepflicht
Offizielle Zahlen zu Todesopfern oder schwerwiegenden Hirnschäden nach Narkosen gibt es nicht. Es besteht keine Meldepflicht. Recherchen von Report Mainz zufolge gab es allein in den vergangenen zehn Jahren mindestens 21 Todesfälle nach Vollnarkosen in Arztpraxen, darunter mehrere Kinder. Sechs Personen erlitten schwere Hirnschäden, einige sind bis heute pflegebedürftig.
Über Monate hat das ARD-Politikmagazin in Gerichtsurteilen recherchiert, Staatsanwaltschaften sowie Medizinrechtsanwälte befragt. Durchschnittlich kommt es demnach jährlich zu mindestens zwei bis drei Fällen von schwerwiegenden Komplikationen nach Vollnarkosen in Arztpraxen, etwa beim Zahnarzt oder beim HNO-Arzt. Zehn Ärzte wurden verurteilt.
Mehrere Verfahren laufen derzeit noch. Immer wieder wurde auf grundlegende Standards verzichtet: etwa auf geschultes Personal oder wichtige Überwachungsgeräte.
Prof. Uwe Schulte- Sasse, Anästhesist und ehemaliger Klinikdirektor kritisiert, die Fälle seien vermeidbar gewesen. “Gesunde Patienten, kleine Eingriffe. Diese Patienten müssen eine Vollnarkose überleben.” Bedingung sei, dass Ärzte sich an die Standards hielten. Jedes Jahr werden Millionen Patienten ambulant operiert.
“Wirtschaftlich motiviert”
Tim Neelmeier, Richter am Landgericht Itzehoe, spricht von einem Muster. Er hat mehrere Fälle juristisch begleitet: “Standardunterschreitungen sind hier wirtschaftlich motiviert. Das kann man ganz klar sagen.” Die Ursachen sieht er im Abrechnungssystem: Bezahlt würden Ärzte nur dafür, dass sie eine Narkose durchführen. Das Wie spiele hingegen grundsätzlich keine Rolle.
Ärzte hätten einen hohen Anreiz, “so viele Patienten in möglichst kurzer Zeit wie möglich zu behandeln” – mit möglichst wenig teurem Personal. “Und das in einem System, das auf Vertrauen ausgerichtet ist”, sagt Neelmeier.
Ärzte sind ihrer Berufsordnung nach gebunden, gewissenhaft und nach dem aktuellen Stand der medizinischen Erkenntnisse zu handeln. Die Einhaltung der Berufsordnung zu überprüfen, liegt bei den Landesärztekammern. Die Kassenärztlichen Vereinigungen sind für die Qualitätskontrolle zuständig. Doch die Arbeitsweise der Anästhesisten wird nicht überprüft. Das sei gesetzlich nicht vorgesehen.
Experten reicht das nicht aus. Richter Tim Neelmeier wird dazu sehr deutlich, er kritisiert: “Ich würde so weit gehen zu sagen, in Deutschland wird jeder Imbiss engmaschiger kontrolliert als eine Arztpraxis.”
Experten fordern schärfere Gesetze und Kontrollen
Mit den Report Mainz-Recherchen konfrontiert, fordern Anästhesiologische Fachgesellschaften wie die Deutsche Gesellschaft für Anästhesiologie und Intensivmedizin e.V. (DGAI) und der Berufsverband Deutscher Anästhesistinnen und Anästhesisten e.V. (BDA) jetzt in einer gemeinsamen Presseerklärung unter anderem das Bundesgesundheitsministerium auf, die Mindeststandards für anästhesiologische Arbeitsplätze rechtlich verbindlich zu verankern.
Richter Neelmeier fordert, dass deren Einhaltung auch durch Kassenärztliche Vereinigungen kontrolliert werden muss. Andernfalls müssten Vollnarkosen in Arztpraxen verboten werden.
Grünen-Politiker Janosch Dahmen, Gesundheitspolitiker und Arzt, formuliert das ähnlich: “Wenn es nicht gelingt, mit anderen Maßnahmen dafür zu sorgen, dass so viele Todesfälle auftreten, dann muss sich die Ärzteschaft genauso wie die Politik in Deutschland fragen lassen, ob es grundsätzlich richtig bleibt, überhaupt Narkosen unter solchen Umständen anzubieten.”
Auf Anfrage von Report Mainz sieht das Bundesgesundheitsministerium jedoch keinen aktuellen Handlungsbedarf. In Großbritannien dürfen seit rund 25 Jahren keine Vollnarkosen in Zahnarztpraxen mehr durchgeführt werden.





















