Kultur

Jahresbilanz in Moskau: Putins Werbeschleife für den Krieg | ABC-Z

Wenn es den Krieg noch nicht gäbe, müsste man ihn beginnen. Das ist, bei aller beteuerten Friedensbereitschaft, die Botschaft, die Russlands Herrscher in seinem großen Jahresendauftritt am Freitag aussendet. Noch in der ersten Hälfte der wieder viereinhalb Stunden dauernden Show spricht ein Medienvertreter aus der sibirischen Region Jakutien Wladimir Putin auf das für 2026 ausgerufene „Jahr der Einheit der Völker Russlands“ an.

Die Jakuten seien ein „sehr talentiertes Volk“, lobt Putin und macht diese Begabung neben Leistungen in Musik und Film daran fest, dass die riesige, spärlich besiedelte Teilrepublik „uns für die Front solche Krieger gibt, wie man sie wohl auf der Welt nicht noch einmal findet“. Dann verbindet Putin die „Einheit“ mit dem Angriffskrieg gegen die Ukraine, seiner „speziellen Militäroperation“: Darin schließe sich das Land zusammen, schwärmt Putin. Was mache es, wenn einem Kugeln über die Köpfe flögen, für einen Unterschied, welchen Glauben man habe?

Auch Medienvertreter aus „unfreundlichen Ländern“ dabei

Den Rahmen für das Kriegslob gibt ihm die Jahresendsendung „Ergebnisse des Jahres“. Zum vierten Mal nach 2021, 2023 und 2024 sind Putins Jahresendpressekonferenz und die frühere Anrufsendung „Direkter Draht“ zusammengelegt. 2022, direkt nach dem Überfall auf die Ukraine, war die Veranstaltung entfallen. Daran erinnern die Moderatoren des Staatsfernsehens am Freitag aber nicht, als sie mit den üblichen Superlativen die millionenfachen Fragen aus der Bevölkerung und die Anwesenheit Hunderter Medienvertreter, auch aus „unfreundlichen Ländern“ wie Deutschland und Großbritannien, verkünden. Die Leute im Publikum im Gostinyj Dwor, einem Veranstaltungszentrum nahe dem Kreml, mussten vorher einen PCR-Coronatest absolvieren, früher waren es drei. Im ganzen Land werden Russen in Staatseinrichtungen in Gruppen vor Bildschirme gesetzt, um die Veranstaltung anzuschauen.

Traditionell geht es bei der Veranstaltung viel um soziale Fragen und Sorgen der Bevölkerung. Im vergangenen Jahr galt erst die dritte Frage dem Krieg. In diesem Jahr ist es gleich die erste. Was aus den Verhandlungen über ein Ende des Krieges werden solle, wo doch die Ukraine „nicht bereit ist, die territoriale Frage zu erörtern“, fragt Putins Staatsfernsehleibreporter Pawel Sarubin, der mit einer Kollegin auch die Moderation im Saal übernimmt. Gemeint sind die von Russland geforderten Gebietsaufgaben der Ukraine. „So eine Bereitschaft sehen wir bisher tatsächlich nicht“, sagt Putin. Russland sei bereit, den „Konflikt“ mit friedlichen Mitteln zu lösen, beteuert er. Und dann verweist er auf seine Bedingungen dafür, die er im Juni vorigen Jahres formuliert hat. Sie gehen weit über die unter russischer Mitwirkung entstandene Ausgangsversion des sogenannten Friedensplans der Amerikaner von 28 Punkten hinaus, der im November bekannt geworden ist.

Putin will weiter „Grundursachen“ des Krieges beseitigen

Putin fordert damit weiter, dass die Ukrainer alle von Moskau angeschlossenen Gebiete räumen und dass die Annexionen anerkannt und westliche Sanktionen aufgehoben werden sollten. Donald Trumps 28-Punkte-Plan sieht eine Räumung allein der Donbass-Gebiete von Donezk und Luhansk vor und eine faktische Teilung der südlichen Gebiete von Cherson und Saporischschja. Im Juni 2024 hatte Putin auch gefordert, die Ukraine müsse einen „neutralen, blockfreien, nuklearwaffenfreien Status“ erhalten und „demilitarisiert und entnazifiziert“ werden.

Das läuft der Idee einer nach einem hypothetischen Waffenstillstand schlagkräftigen ukrainischen Armee zuwider und macht die Forderung nach einem kremlfreundlichen Regime in Kiew, für das der Ruf nach „Entnazifizierung“ steht, zum Verhandlungsgegenstand. Gegen Ende der Show erklärt sich Putin bereit, während einer möglichen Präsidentenwahl in der Ukraine, zu der sich der dortige Präsident Wolodymyr Selenskyj bereit erklärt hat, nicht anzugreifen. Das aber nur, wenn Ukrainer, die in Russland lebten, dabei auch abstimmen dürften.

Auch wiederholt Putin schon zu Beginn seiner Rede die Forderung nach einer Beseitigung der „Grundursachen des Konflikts“. Darunter versteht Moskau unter anderem die Rückabwicklung der NATO-Erweiterungen seit 1997, Putin lässt keinen Zweifel daran, dass er seinen Krieg fortsetzen will, und lobt Erfolge auf den ukrainischen Schlachtfeldern. Er nennt Städte wie Slowjansk, die man nach Putins Aussage schon fast erobert hat, um zu illustrieren, dass man die Besetzung des 2022 annektierten Donezker Gebiets auch militärisch vollenden könne, wenn es nicht diplomatisch gelinge.

Erfreut spricht Putin auch vom ebenfalls 2022 angeschlossenen südukrainischen Gebiet Saporischschja, „eine Siedlung nach der anderen“ werde dort „befreit“. Neuerlich behauptete Putin, seine Truppen kontrollierten auch die Stadt Kupjansk im nördlichen Charkiwer Gebiet. Dort war vorige Woche der ukrainische Präsident Selenskyj, um Putins Darstellung zu widerlegen. Jetzt stellen Putin und Sarubin dessen Auftritt als „Fake“ und „Inszenierung“ dar. Putin stellt auch einen Militär als Kriegshelden vor, der mit wortreicher Hilfe von Putins Staatsfernsehleuten erzählt, dass ukrainische Truppen Zivilisten erschossen hätten.

Bei einer Soldatenwitwe entschuldigt sich Putin

Putin sagt, die Ukraine habe „praktisch keine strategischen Reserven mehr“, er hoffe, dass das Land zu einer „Lösung mit friedlichen Mitteln“ bereit sei. So wird die Show zu einer Dauerwerbeschleife für den Krieg. Putin preist Drohnenpiloten an der Front, die „Helden“ seien. Der Saal klatscht. Mehr als 400.000 „echte Männer“ hätten allein in diesem Jahr Verträge mit den Streitkräften geschlossen, besonders viele wollten Drohnenpiloten werden. Sogar im Urlaub nähmen Drohnenpiloten weiter an Gefechten teil, dank „moderner Technik“, sagt Putin.

Aber auch Probleme werden angesprochen, sonst hätte die Sendung ihren Sinn, einen „guten Zaren“ zu präsentieren, verloren. Eine Soldatenwitwe aus Nowosibirsk klagt, sie und ihre drei Kinder erhielten keine Hinterbliebenenrente, obwohl ihr Mann schon im Februar 2024 gefallen sei. Putin entschuldigt sich bei ihr, ihr Fall werde „rasch“ gelöst.

Viel Redezeit verwendet Putin darauf, Widersprüche im Lager seiner westlichen Widersacher auszukosten und nach Möglichkeit zu vertiefen. Ein Reporter des amerikanischen Senders NBC erhält zum wiederholten Mal bei Putin-Veranstaltungen das Wort und fragt, ob Putin sich für den Tod von Ukrainern und Russen im Jahr 2026 verantwortlich halten werde, wenn er Donald Trumps „Friedensplan“ ablehne. „Wir halten uns nicht für den Tod von Menschen verantwortlich“, sagt Putin und wiederholt seine Linie: „Nicht wir haben diesen Krieg begonnen.“ Das sei die Ukraine gewesen, behauptet Putin und lobt den amerikanischen Präsidenten, der den Konflikt ernsthaft lösen wolle. Russland lehne gar nichts ab und sei kompromissbereit.

Zu welchen Kompromissen er bereit sei, sagt Putin aber nicht. Der Widerspruch mit Blick auf seine zu Beginn des Auftritts bekräftigten Forderungen, die weit über Trumps Ausgangsplan hinausgehen, bleibt ungelöst. „Der Ball ist ganz und gar im Feld unserer westlichen Gegner“, sagt Putin, präzisiert dann aber unter Berücksichtigung seines neuen, mit Blick auf Trump um die Amerikaner bereinigten Feindbilds: „Der Ball ist ganz aufseiten des Kiewer Regimes und seiner europäischen Sponsoren.“

Werden ausländische „Agenten“ auch in den USA verfolgt?

Das Wort erhält auch der langjährige Russland-Korrespondent der BBC, Steve Rosenberg. Er ist ein Lieblingsfeind der Staatsmedien. Rosenberg fragt, welche Zukunft Putin für sein Land und für sein Volk konstruiere: Werde darin, wie jetzt, jedes Widerwort geahndet, würden innere „Feinde“ ausgemacht, werde es neue „spezielle Militäroperationen“ geben? Denn praktisch sei doch die ganze Macht in seinen, Putins, Händen.

Putin behilft sich mit Blick auf die Verfolgung Andersdenkender, indem er zunächst so tut, als beziehe sich die Frage allein auf Russlands Regeln gegen „ausländische Agenten“. Ein entsprechendes Gesetz sei in den USA schon in den Dreißigerjahren erlassen worden und darin sogar strafrechtliche Verantwortung vorgesehen, anders als in Russland. Letzteres stimmt nicht, und zudem gibt es in Russland viele weitere Tatbestände, unter denen Regime- und Kriegskritiker zu Haftstrafen verurteilt werden. „Bei uns gibt es keine Repression und strafrechtliche Verfolgung“, behauptet Putin gleichwohl.

Mit Blick auf mögliche neue Kriege antwortet Putin Rosenberg, der ihm nun als Gesicht des Westens gilt, es werde keinerlei „Operationen“ geben, „wenn ihr uns respektiert“. Dann wiederholt er seine Mär vom gebrochenen Versprechen der NATO-Osterweiterung und sagt auch, die Behauptung, dass Russland vorhabe, „Europa“ zu überfallen, sei „Quatsch“. Er beteuert eine Bereitschaft zusammenzuarbeiten, „aber unter Gleichen und mit gegenseitigem Respekt“, davon würden alle profitieren. „Nicht wir kämpfen gegen euch, sondern ihr kämpft gegen uns mit den Händen der Ukrainer“, sagt Putin.

Sarubin sekundiert seinem Präsidenten und fragt diesen, warum die Europäer die Ukrainer nun auch gegen die Amerikaner unterstützten? Damit wollten sie „ihre eigenen Fehler überdecken“, sagt Putin und teilt neuerlich gegen die Gegner aus: Die Europäer hätten sich zugunsten der Demokratin Kamala Harris in die US-Präsidentenwahl 2024 eingemischt und zielten jetzt auf eine Änderung der Machtverhältnisse durch die Kongresswahlen in den USA im November 2026, um dann mehr Druck auf Trump auszuüben.

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