Iwa Pesuaschwili über die Zukunft | ABC-Z
Herr Pesuaschwili, am Samstag wird in Georgien ein neues Parlament gewählt. Wie ist die Stimmung unter Ihren Landsleuten, fühlen sie sich am Scheideweg?
Der Großteil der jüngeren Georgier ist proeuropäisch eingestellt. Es gibt aber einige ältere Nationalisten, die von russischen Geheimdiensten unterstützt werden und die Sowjetunion als eine bessere Zeit verklären. Stalin, ebenfalls ein Georgier, aber zugleich russischer Imperialist, hat Georgien einst als „Provinz südlich von Russland“ bezeichnet. Mein Land steht vor der Entscheidung, ob es eine solche Provinz oder ein eigenständiges, europäisches Land sein will. Für die Georgier ist klar: Sie wollen Teil der Europäischen Union werden. Doch die Regierungspartei Georgischer Traum agiert wie der verlängerte Arm des Putin-Regimes. Erst kürzlich produzierte in einer Fernsehtalkshow ein russischer Oligarch dessen anti-westliche Rhetorik mit Ausfällen gegen Rechte von LGBTQ-Personen. Es ist ein Mittel aus dem KGB-Handbuch, um die Gesellschaft zu spalten und Ängste zu schüren.
Was erwarten Ihre Bekannten von der Wahl?
Viele sind unsicher über die Zeit nach dem 26. Oktober. Eine Freundin wollte ihre Tochter zum Arzt bringen, doch als ihr ein Termin für den 29. Oktober angeboten wurde, lehnte sie ab, weil sie wie so viele andere ihr Leben nicht über dieses Datum hinaus plant. Der Tag gilt als Wendepunkt. Auch ich betrachte ihn als den vielleicht wichtigsten Augenblick in unserer Geschichte. Erst danach können wir weiterdenken und planen. Ich glaube, dass wir am 27. Oktober aus dem „Georgischen Albtraum“ erwachen und viel europäischer sein werden.
Der Parteiname Georgischer Traum ist zu einem „Georgischen Albtraum“ geworden?
Die Partei ist an der Macht, hat jedoch den Rückhalt der Gesellschaft verloren. Ich glaube nicht, dass sie sich eine Politik leisten kann, die die Bevölkerung zu einem Volksaufstand wie dem ukrainischen Maidan aufstachelt. Sie erhält vielleicht 30 bis 32 Prozent der Wählerstimmen, aber selbst diese Wähler unterstützen das System nicht aus Überzeugung, sondern aus Abhängigkeit.
Wie wirkt sich die Politik des Georgischen Traums auf die Kulturszene aus?
Die Regierung hat die Leitung des Schriftstellerhauses, das früher von der angesehenen Natascha Lomouri geleitet wurde, mit Ketewan Dumbadse besetzt, einem Mitglied des Georgischen Traums, die für das „russische Gesetz“ über ausländische Agenten gestimmt hat. Seither boykottieren etwa 140 der 150 aktiven Mitglieder der georgischen Literaturszene alle Aktivitäten der Institution. Doch auf der Frankfurter Buchmesse konnte das staatlich finanzierte Schriftstellerhaus zwei Jahre in Folge keinen eigenen Stand organisieren. Uns unabhängigen georgischen Autoren hingegen gelang es, auch ohne staatliche Förderung auf der Messe mit einem Stand präsent zu sein.
Was passiert, wenn der Georgische Traum die Wahl gewinnt?
Dann könnten georgische Autoren gezwungen sein, ihre Bücher in schwarzen Plastikhüllen anzubieten, weil sie als „ausländische Agenten“ gelten. Daher ist es entscheidend, die Regierung am 26. Oktober abzuwählen. Es geht darum, die Isolation Georgiens von der EU zu verhindern. Ohne EU-Perspektive werden Russland, China und andere autoritäre Länder bei uns an Einfluss gewinnen. Doch ich bin optimistisch, dass der Georgische Traum das Wahlergebnis akzeptieren und das Land verlassen wird – mit einem Ticket nach Russland. Das wäre das beste Szenario.
Sie sind 1990 geboren. Auf der Frankfurter Buchmesse haben Sie Ihr Buch „Müllschlucker“ vorgestellt, das auf Deutsch im Mitteldeutschen Verlag erscheint. Darin schlägt sich eine armenische Familie in Tiflis mit den Problemen einer korrupten postsowjetischen Gesellschaft herum. Welche reale Vorlage hat das?
Die Geschichte dieser Familie basiert auf der Geschichte des armenischen Kindermädchens meiner Tochter. Sie und ihr Mann stammten aus Baku, zogen aber nach den Pogromen von Sumgait nach Eriwan und später nach Tiflis.
In Ihrem Buch gibt es die Metapher des Müllschluckers, die für etwas Faules im Staat Georgien steht.
Der Müllschlucker und sein Gestank stehen für den Verfall im Staat Georgien. Und für zerfallende Imperien wie die Sowjetunion, die kleinere Nationen mit in den Abgrund reißen – wie es mit den transkaukasischen Nationen geschah. Wobei die Konflikte stets durch den russischen Geheimdienst angeheizt wurden. Auch heute ist Russland ein absteigendes Land, das versucht, Nachbarn wie Georgien in den Sumpf zu ziehen.
Wo sehen Sie das Hauptproblem Georgiens?
In meinem Buch gibt es eine Szene, in der die Hauptfigur erkennt, dass die Georgier die Geschichte nie als Wissenschaft erlernt haben. Stattdessen wurde historisches Wissen vor allem bei traditionellen Banketten durch den Toastmeister „Tamada“ vermittelt. Das, was so tradiert wurde, war natürlich eine karikaturhafte Geschichtserzählung. Viele kleinere Nationen, die versuchen, im Schatten eines übermächtigen Imperiums ihre Identität zu bewahren, kennen das Problem.
Wie unterscheidet sich das georgische Identitätsgefühl von dem der Ukrainer?
Die georgische Identität hat sich stärker bewahrt, die Russen haben den Ukrainern kulturell und sprachlich mehr weggenommen. Die georgische Sprache gehört einer anderen Sprachfamilie an, das stabilisierte unsere Identität. Die sowjetische Propaganda stilisierte uns freilich zu fröhlichen Stereotypen, dabei gehören Georgien und Armenien zu den ältesten Kulturen der Welt.
Wie behandeln Sie das Thema des Nationalismus in Ihrem Buch?
Es gibt eine Episode, in der meine Hauptfigur, ein Armenier, an einem „Georgischen Marsch“ teilnimmt, der vom russischen Geheimdienst unterstützt wird. Dessen Teilnehmer befragen ihn nach seiner Identität, und sein Freund macht ihm das Kompliment, er sei mehr Georgier als die meisten von ihnen. Die Szene vergegenwärtigt das „Georgiersein“ als etwas wie ein Ziel oder eine Leistung. Wenn jemand Georgisch spricht, betrachten ihn alle Georgier als einen der Ihren.
Sie kritisieren den russischen Imperialismus, schreiben in Ihrem Buch aber viele Dialoge auf Russisch.
Mein Held entscheidet, als sich seine Identitätskrise zuspitzt, nicht mehr Armenisch zu sprechen. Seinen Kindern hat er nie Armenisch beigebracht. Minderheiten in Tiflis besuchen meist russische Schulen, sie sprechen Russisch. Der Held spricht Russisch, obwohl er weiß, dass jedes verdammte Problem in seinem Leben auf die Russen, ihren Geheimdienst und ihren imperialen Einfluss zurückzuführen ist. In der russischen Sprache liegt der Sarkasmus und der schwarze Humor. Die Besatzung kann enden, aber der koloniale Einfluss bleibt bestehen.