Italiens Fußballerinnen im EM-Halbfinale: Girelli ist die Heldin gegen Norwegen – Sport | ABC-Z

Christiana Girelli war müde, wer konnte es ihr verdenken. 87 Minuten lang hatte sich die 35-Jährige in der Offensive der Italienerinnen aufgerieben, das 1:0 erzielt, vor allem aber unzählige Male ihre Gegenspielerinnen beim Anlaufen unter Druck gesetzt. Auf und ab war Girelli gelaufen, in der schwül-warmen Luft des Genfer Stadions, und nun war ihr auch noch eine dieser Gegnerinnen im Zweikampf begegnet, Norwegens Verteidigerin Tuva Hansen. Girelli war auf den Rücken gefallen und musste sich behandeln lassen, draußen machte sich bereits Martina Piemonte als Ersatz bereit. Aber einmal kam Girelli noch aufs Feld. Für ein letztes Anlaufen, einen letzten kurzen Pass, der einen Angriff einleitete. Und für einen Sprint in den Strafraum, wo der vermutlich wichtigste Kopfball ihrer Karriere auf sie wartete.
61 Tore hat Girelli für Italiens Nationalmannschaft erzielt, keines war so wichtig wie dieser Kopfball in der 89. Minute. Wie beim 1:0 war die Vorlage von Sofia Cantore gekommen, über all die großen Norwegerinnen hinweg flog deren traumhafte Flanke, direkt auf Girelli zu: Ein kurzes Einköpfeln, ein Titschen des Balles an der Unterkante der Latte, dann stand es 2:1. Und Italien war im Halbfinale einer Europameisterschaft, zum ersten Mal seit 28 Jahren.
:Die Spitze des Dreizacks
Lea Schüller ist effizient und hat eine enorme Torquote – trotzdem wird die Stürmerin des FC Bayern bei der EM bisher kaum eingebunden ins deutsche Offensivspiel. Dies zu ändern, könnte im Viertelfinale ein Schlüssel sein.
„Es hat etwas Magisches an sich“, sagte Girelli später über diesen Abend, der so viel Aussagekraft hatte. Es war von vornherein mehr als ein Fußballspiel gewesen für die Italienerinnen, es war auch eine Gelegenheit, ein Zeichen zu setzen. Um einem Land, das immer noch fremdelt mit dem Calcio Femminile, zu beweisen, dass es mehr als eine Squadra gibt, für die man die Hymne mitsingen kann: Dass es nicht nur Fratelli, sondern auch Sorelle d’Italia gibt. Die Worte von Girelli nach dem Spiel hatten enormes Gewicht: „Dieser Sieg hat eine tiefere Bedeutung“, sagte sie: „In Italien können wir Fußball spielen – das gilt auch für die Frauen.“
Wer diese Partie am Mittwochabend verfolgte, musste Girelli in ihrer These recht geben. Die Italienerinnen spielten über weite Strecken Fußball im Sinne ihrer nationalen Identität: Gestalten wollten sie, wie ein modernes Kollektiv– und kein Team war im Gegenschnitt besser geeignet als Norwegen, um zu zeigen, wie es nicht geht.
In Genf war eine italienische Mannschaft zu sehen, die mehr ist als die Summe ihrer Einzelspielerinnen. Girelli, Flügelspielerin Barbara Bonansea, Abwehrspielerin Elena Linari, sie sind erfahrene Routiniers aus der Serie A. Die Regisseurin Manuela Giugliano kann ein Spiel diktieren, die Vorlagengeberin Cantore hat sich vor Kurzem einen Vertrag in der amerikanischen Liga erspielt. Eine Weltfußballerin wie Ada Hegerberg oder eine mehrmalige Champions-League-Siegerin wie Caroline Graham Hansen hatte Italien nicht in der Startformation – das sind die Spielerinnen, die seit Jahren für eine herausragende Generation aus Norwegen stehen. Und in einer beachtlichen Erfolglosigkeit festhängen.
Was ist nur mit diesen Norwegerinnen los bei dieser EM?
Eine fußballerische Identität suchte man bei den Norwegerinnen auch bei dieser EM vergeblich, stattdessen gab es die üblichen Schlagzeilen: Hegerberg, die unbequeme Kapitänin, spaltet in ihrer Heimat die Gemüter. Vor dem Viertelfinale votierten 20 000 Menschen in einer Umfrage, sie auf die Bank zu setzen, auch in der Mannschaft ist sie, so hört man, nicht unumstritten – und fußballerisch konnte man auch diesmal Kritikpunkte sammeln.
In Erinnerung blieben von diesem aus norwegischer Sicht dramatischen Abend wenige herausgespielte Offensivszenen und wenig strategischer Fußball. Eine Stunde lang dominierte Italien im Ballbesitz, das überfällige Führungstor fiel in der 50. Minute durch Girelli, kurz darauf hätte Italien erhöhen können. Dass dann Norwegen zurück ins Spiel kam, hatte mit zwei Kuriositäten zu tun. In der 60. Minute erhielten sie einen Elfmeter, der insofern höchst fragwürdig war, als dass Hegerberg im Abseits gefoult wurde, was allerdings sowohl Schiedsrichterin Stéphanie Frappart als auch der zugeschaltete VAR ignorierten. Ein bemerkenswerter Vorgang, der nur deshalb keine größere Rolle spielte, weil Hegerberg verschoss, wie schon im Auftaktspiel gegen die Schweiz. Prägend für das Spiel wurde sie dennoch.
Einen Fehler in der Absprache zwischen der italienischen Verteidigungskette und Torhüterin Laura Giuliani nutzte Hegerberg zum 1:1, das den Italienerinnen für 20 Minuten den Schock ins Gesicht schrieb. Die meisten EM-Teams hätten diese Phase der Verunsicherung genutzt – aber ein lethargisches Norwegen ohne Systematik ließ sich in der Schlussphase sogar zum Zeitspiel hinreißen, um eine Verlängerung abzusichern.
Der Plan schlug fehl, weil die spielbestimmende Stürmerin auf der anderen Seite trotz fortgeschrittener Zeit noch einen Kopfball in sich hatte. Und auch nach ihrer Auswechslung gelang Christiana Girelli alles in Genf, ihrem Lieblingsstadion, wo sie gegen Spanien bereits eines der schönsten Tore der Vorrunde erzielt hatte. Während ihre Kolleginnen den Vorsprung so effizient verwalteten, dass Norwegen in der Nachspielzeit nicht mal mehr in Ballbesitz kam, drehte Girelli, die auf der Gegengerade das Feld verlassen hatte, eine vorzeitige halbe Ehrenrunde. Sie jubelte dem kleinen Kern an Tifosi zu, winkte in Richtung der Familien der Spielerinnen, sie hatte noch Gelegenheit, an die vielen unschönen Erinnerungen zurückzudenken: An die Schmach, von der EM 2022 als Gruppenletzte abzureisen; an das unwürdige Aus gegen das kleine Südafrika bei der WM 2023. Das alles liegt nun hinter Italien.
„Eine Demonstration dessen, was diese Mannschaft über all die schwierigen Jahre durchgemacht hat“, nannte Girelli diesen Sieg, dessen Ende sie aus bester Perspektive miterlebte. Gerade als sie an der italienischen Bank ankam, pfiff Frappart das erste Viertelfinale ab, das die Erkenntnis brachte, dass eine Mannschaft mit Plan über Einzelspielerinnen triumphiert. Und dass Italien nun wieder eine Fußballnation im Kreis der besten Vier ist. Zumindest bei den Frauen.