Ist Florian Lipowitz zu gut für die zweite Reihe? | ABC-Z

Es sind weit mehr als 30 Grad Celsius an diesem Tag in Laval, als Florian Lipowitz die Bremse betätigt, um mit seinem Rad in der prallen Sonne zum Stillstand zu kommen. Die Kamera fängt einen Radprofi ein, dem ein weißes Handtuch um den Nacken hängt, in dem sich Eis befindet. Das soll den Körper herunterkühlen. Gerade ist die achte Etappe bei der Tour de France zu Ende gegangen. Im Gesamtklassement hat sich nichts getan.
Doch Lipowitz ist selbst an diesen Tagen ein gefragter Mann. Höflich erklärt er, was er schon seit Tagen immer wieder sagt: wie hektisch es zugeht und wie froh er ist, dass er bisher heile durchgekommen ist. Schnell bildet sich eine kleine Menschentraube aus Fans, und als das Interview kurz darauf vorbei ist, bittet ihn ein Junge mit gelber Kappe, Notizbuch und Stift um einem Autogramm. „Weißt du, wer das war?“, fragt der Vater. Der Bursche schüttelt den Kopf.
„Zuletzt habe ich an mir gezweifelt“
Interviews, Autogramme, Fotos: So sieht der Alltag aus von Lipowitz auf der größten Bühne, die sein Sport zu bieten hat. Mit einem Unterschied: Im Gegensatz zum jungen Autogrammsammler wissen die meisten Fans, wer da im Gedränge des Zielauslaufs an ihnen vorbeirollt.
Seit seinem dritten Platz beim Critérium du Dauphiné hinter Tadej Pogačar und Jonas Vingegaard kennt ein Großteil der radsportbegeisterten Franzosen die Geschichte des ehemaligen Biathleten, der erst seit fünf Jahren Radprofi und inzwischen nicht nur in der Weltspitze, sondern auch im größten Rennen angekommen ist.
„Zuletzt habe ich schon an mir gezweifelt. Ich bin nicht so gut in die Tour gestartet. Die Stimmung war nicht die beste“, sagte Lipowitz nach seinem starken Einzelzeitfahren auf der fünften Etappe, das er für das deutsche Team Red Bull-Bora-hansgrohe auf Rang sechs beendete. Was durchaus überraschend wirkte: Zweifel und schlechte Stimmung – wie kann das sein nach diesem kometenhaften Aufstieg, der ihn aus dem Nichts bis fast nach ganz oben geführt hat?
Der Stress der Tour verändert vieles. Sie ist größer, schneller und fordernder als jedes andere Rennen, vor allem wenn man mit der Geschichte von Florian Lipowitz anreist. Überall, wo sein Name derzeit fällt, ist von der neuen deutschen Radsport-Hoffnung die Rede. Noch im vergangenen Jahr war sich der Vierundzwanzigjährige gar nicht sicher, welche Rolle er irgendwann mal im Radsport einnehmen könnte: Wasserträger, Edelhelfer oder vielleicht sogar Kapitän?
Jetzt sind viele Augen auf ihn gerichtet. Die Sehnsucht nach einem Rundfahrer, der eine Begeisterung in Deutschland entfachen kann, ist groß. Damit muss ein introvertierter Sportler, der in einem anderen Leben nicht den Weg vor eine Kamera gesucht hätte, umgehen können. „Der ist ja auch nicht doof und liest Zeitung, schaut Fernsehen oder hört, was da gesagt wird“, sagt sein Sportdirektor Rolf Aldag: „Und dann wird einem auch klar, was da zum Teil für Erwartungen gewachsen sind.“
Fehler auf den ersten Etappen
Inzwischen wirkt es so, als käme Lipowitz damit von Tag zu Tag besser zurecht. Auch die Beine fühlten sich gut an, sagt er. So gut, dass er nach der ersten Woche als Achter des Gesamtklassements schon vier Sekunden vor Teamkollege Primož Roglič, einem der besten Rundfahrer der vergangenen Jahre, lag.
Der Einstand ist gelungen. Doch die Tour zeigt wie kein anderes Rennen auch auf, wo Schwächen liegen und was Lipowitz, aber vor allem seinem Team noch fehlt, um den Abstand zu Tadej Pogačar zu verringern, der vor der neunten Etappe etwas mehr als drei Minuten betrug.
Zeit verloren hat Lipowitz auf dem ersten Teilstück, als das Feld auf einer Windkante getrennt wurde, und auf den Etappen vier und sieben jeweils an den kürzeren, steilen Schlussanstiegen. Die liegen ihm ohnehin nicht so gut. Hinzu kommt: In der ersten Woche sind auf solch einem Terrain viele Fahrer in der Spitzengruppe.
Wer im Gedränge dann zu weit hinten ist, kommt nicht mehr nach vorn, wenn dort aufs Tempo gedrückt wird. Bei Lipowitz war das zweimal der Fall. Das ist nicht allein ihm anzukreiden. Die Positionierung vor den Anstiegen ist auch Aufgabe der Teamkollegen. Lipowitz hat auf den ersten Etappen nicht alles richtig gemacht. Er war aber zu häufig auch auf sich allein gestellt.
„Einfach mal klettern und schauen“
Schon auf der ersten Etappe hatte er viel Energie aufbringen müssen, um sich nach einem Defekt wieder ans Feld herankämpfen zu können. Am zweiten Tag attackierte er im Finale mit einer Regenjacke in der Trikottasche am Rücken, deren Ausbeulung den Windwiderstand erhöhte – obwohl es schon seit etlichen Kilometern nicht mehr geregnet hatte. Was ihm jeweils fehlte, war ein Helfer an seiner Seite, der ihn unterstützt, in der Hektik einen kühlen Kopf zu bewahren. Dass Lipowitz in der Gesamtwertung trotzdem in den Top Ten steht, zeigt, in welch starker Verfassung er angereist ist.
Das Team ist mit ihm bisher zufrieden, hatte seine erste Tour vor allem als Chance zum Lernen ausgegeben. „Wir sehen so viel Gutes in dem Jungen, dass wir da ganz behutsam vorangehen wollen. Es ist ein Herzensprojekt für mich“, sagte Denk, der keinen Druck aufbauen will.
Der Plan sah vor, die Hektik der ersten Tage zu überstehen. Jetzt soll Lipowitz laut Denk „einfach mal klettern und schauen, wie lange er dranbleibt“. Die Quälerei in den Bergen, die an diesem Montag mit der ersten schweren Etappe beginnt, liegt dem Deutschen viel mehr als das Chaos der ersten Hälfte, das für ihn als Umsteiger noch mal stressiger ist als für manch anderen.
Es ist Lipowitz deshalb zuzutrauen, dass er in der Gesamtwertung noch weiter nach vorn rückt und andere auf Distanz hält. Nicht nur das Zeitfahren, Rogličs Paradedisziplin, in der Lipowitz 21 Sekunden schneller war als sein Kollege, deutet im Moment darauf hin, dass er der Stärkste im Team ist. Wer fährt für wen? Die Kapitänsfrage, die seit Beginn über diesem Team wabert, dürfte sich in den Bergen auf die beste Art und Weise entscheiden: durch die Beine der Fahrer.