Israel: Wie der 7. Oktober die israelische Jugend verändert hat | ABC-Z
Per Zufall entdecke ich das Foto eines israelischen Soldaten in den sozialen Medien und glaubte, Liron darauf zu erkennen. Da ich noch mit Noam in Kontakt stehe, schicke ich ihm das Foto zu. Und er bestätigt, ja, das sei Liron, sein bester Freund. Der ihm damals am Roten Meer geduldig über seine Angstattacke half, die ihn beim Schnorcheln überfallen hatte.
Sechs Jahre sind seit dieser Reise nach Ägypten vergangen. Ich schreibe Liron und erhalten erst viele Tage später eine Antwort. „Hallo, wie geht es Dir? Wie schön, von Dir zu lesen. Leider bin ich die meiste Zeit nicht erreichbar. Ich bin froh, dass Du noch die Fotos aus dem Sinai hast“.
Liron hält sich zu diesem Zeitpunkt mit seiner Einheit in Jibaliya auf, einem Stadtteil im Norden von Gaza. Es ist nicht möglich, mit ihm direkt zu sprechen, wir kommunizieren über Text- und Sprachnachrichten. Schon damals, vor sechs Jahren, wirkte er ernster und nachdenklicher als seine Freunde Adi, Noam, Dor, May und Shay, mit denen er im Kibbuz aufgewachsen ist. Mittlerweile besitzt Liron ein Apartment in Ornit, in der des Kibbuz in Rosh Ha’Ain in Zentralisrael.
„Ja, natürlich würde ich Dich gerne treffen, wenn wir eine Pause vom Krieg haben“, schreibt er. „Eine Pause vom Krieg“, antworte ich. Was für eine Formulierung.
„Selbst ich verstehe nicht wirklich, was ich im letzten Jahr durchgemacht habe“, schreibt Liron noch. Das war am 24. November. Dann ist er nicht mehr zu erreichen.
Unsere damalige Reise, auf der wir uns alle kennenlernen, begann am Grenzübergang von Israel nach Ägypten. Ich hatte eine mehrtägige Wanderung durch die Negev-Wüste im Süden Israels hinter mir und stieg mit einer Gruppe junger Israelis in einen Minibus, der uns über die Grenze bringen sollte. Sie hatten gerade ihren Militärdienst beendet und wollten in den fünf Tagen am Roten Meer, die vor uns lagen, so viel und so intensiv wie möglich leben.
Ich wurde Teil ihrer Gruppe. Es war faszinierend, sie zu beobachten, mit dieser Mischung aus jugendlichem Übermut und dem übergroßen Mantel der Verantwortung, der ihnen übergeworfen wurde. Ihr Blick verriet vom Aufwachsen unter ständiger Bedrohung.
Jedes Mal, wenn wir einen der zahlreichen Checkpoints passierten, war die Anspannung im Bus zu spüren. Bereits damals gab es die berechtigte Sorge, dass israelische Staatsbürger von Splittergruppen der Hamas in dem Wüstengebiet entführt werden könnten. Einige hatten ihren Eltern ihre Reise verheimlicht, um sie nicht zu beunruhigen. Trotzdem war ein Ausflug in den Sinai beliebt.
Während der Zeit mit der Gruppe, die aus fünf jungen Männern und einer Frau bestand, wurde deutlich, wie sehr sie sich alle nach Selbstverwirklichung und Erfahrungen sehnten. Sie wollten reisen, feiern, sich verlieben, Abenteuer erleben, sich neue Fähigkeiten aneignen und Musikfestivals besuchen. Sie träumten nicht in erster Linie von einer Karriere, sondern von einem aufregenden und erfüllten Leben. Auch das Leben in Berlin interessierte sie, sie fragten mich viel dazu, vor allem über die wilden Zeiten der 1990er-Jahre.
Gleichzeitig waren ihr Patriotismus und ihre Verbundenheit mit Israel deutlich spürbar. Auffallend war auch ihr ausgeprägter Gemeinschaftssinn. Sie lebten nach dem Motto: „Alle für einen, einer für alle“, so wie im Kibbuz. Man schlief nebeneinander in Schlafsäcken auf dem Boden der einfachen Unterkünfte. Wir fuhren im offenen Pick-Up durch die Schluchten, die Boombox voll aufgedreht, hallte Elektromusik aus Tel Aviv von den Bergen links und rechts wider. Es war eine verrückte Stimmung. Alle schrien durcheinander und der Pickup fuhr immer schneller über die holprige Piste, eine riesige Staubwolke hinterlassend.
Die Persönlichkeiten der Einzelnen kamen zum Vorschein. Einige verarbeiteten noch ihre Erlebnisse aus dem Militärdienst, andere, wie die junge Frau Adi, träumten davon, im Ausland zu studieren und etwas anderes zu erleben als die politischen Konflikte und das konservative Leben in ihrer Heimat, im Kibbuz in Rosh Ha’Ain. Adi wollte ausbrechen und ihren eigenen Weg gehen.
Liron erzählte ausführlich und abgeklärt von seinen Erfahrungen beim Militär, insbesondere von seinem Einsatz an der Grenze zum Gazastreifen. Für ihn war die Reise eine Art Befreiung, eine Möglichkeit neue Perspektiven zu gewinnen.
May, der als Scharfschütze ausgebildet worden war, trat sehr selbstbewusst auf und war der Witzbold und Sparring-Partner für die anderen, die sich an ihm abreagierten. Er arbeitete bereits als fest angestellter Marshall am Flughafen von Tel Aviv. Der Marshall, auch Einweiser genannt, überwacht den Verkehr auf dem Rollfeld, um Unfälle zu vermeiden. Mit einer weltweit einheitlichen Zeichensprache weist er dem Piloten einen Parkplatz zu.
Dor, Adis Freund, und Shay trugen maßgeblich zu den Entscheidungen bei und übernahmen die Führung der Reisegruppe. Noam erwies sich als der Verletzlichste. Seine Erfahrungen während des Militärdienstes belasteten ihn, was sich in einem schwierigen Moment während der Reise zeigte, als Liron ihm zu Hilfe kam.
Sechs Jahre nach unserer unbeschwerten Reise in den Sinai hat sich die politische Situation in Israel und im gesamten Nahen Osten verändert. Nach dem Hamas-Angriff vom 7. Oktober 2023 auf Zivilisten in den Kibbuzim im Süden Israels ist kaum etwas wir vorher, weder in Israel noch im gesamten Nahen Osten. Der palästinisch-israelische Konflikt ist zugespitzt wie fast noch nie. Im Gaza-Streifen herrscht weiter Krieg, mit weitreichenden humanitären und politischen Folgen.
Wehrpflichtige in Israel können während des Vorauswahlverfahrens, Tzav Rishon genannt, ihre Präferenzen für Bereiche oder Einheiten angeben. Die israelische Armee (IDF) ist generell bestrebt, ihnen Aufgaben zuzuweisen, die ihren Stärken und Interessen entsprechen. Die endgültige Zuweisung hängt jedoch von mehreren Faktoren ab, darunter militärischer Bedarf, Qualifikationen und Fähigkeiten, Vorstellungsgespräche und Probetrainings sowie körperlicher und medizinischer Zustand.
Liron hatte sich bewusst dafür entschieden, an einem der gefährlichsten Brennpunkte der Welt stationiert zu werden: im Gaza-Streifen. Dort, wo er bereits seinen Wehrdienst geleistet hat, damals aber unter anderen Bedingungen.
Adi, die junge Frau von damals, erreiche ich sofort am Telefon. Für ihren Militärdienst hatte sie sich damals für einen Beobachtungsposten bei der Marine entschieden, für den sie eine sechsmonatige Ausbildung absolvieren musste. Mit ihren 148 cm Körpergröße und 40 kg Gewicht war sie zu klein und zierlich für den operativen Einsatz. Sie erzählt mir von ihrem Leben in Neuseeland und Australien, bevor sie zu Beginn der Corona-Pandemie nach Israel zurückkehren musste.
Ihre Gesichtszüge verhärten sich auf dem Bildschirm des Telefons, als sie von ihrer Rückkehr erzählt. Mit ihrem Bruder, der ebenfalls Soldat und in Gaza stationiert ist, dessen Frau, eigentlich mit der ganzen Familie, lebt sie ebenfalls in einem Haus im Kibbutz Rosh Ha’Ain. Sie ist jetzt 29 Jahre alt, studiert im letzten Jahr Psychologie und möchte mit ihrem Freund eine Familie gründen. Von Dor, ihrem Freund von der Sinai-Reise, hat sie sich getrennt und keinen Kontakt mehr. Sie weiß aber, dass er den Anschlag der Hamas am 7. Oktober 2023 auf das Nova-Festival überlebt hat.
Auch Dor erreiche ich per Video-Call. Er sitzt am Steuer seines Autos und dreht sich während der Fahrt im Feierabendverkehr eine Zigarette. Er erzählt, dass er aus dem väterlichen Unternehmen ausgeschieden ist, sein eigenes Start-Up gegründet hat und gerade dabei ist, neue Investoren zu gewinnen.
Die Spannung blitzt in seinen Augen auf, während er sich auf das konzentriert, was er gleich erzählen wird. Über eine Stunde lang nimmt er erneut eine Reise durch die Hölle auf, die sich am 7. Oktober 2023 vor seinen Augen abspielte.
„Es war ein klarer Morgen“, beginnt er. „Ich war alleine auf dem Musikfestival Nova und die Stimmung war euphorisch. Doch kaum war die Party in vollem Gange, waren die ersten Explosionen zu hören. Das Plötzliche, das Unerwartete. Ich höre es noch“, sagt er, und ich sehe, wie die Erinnerung in ihm hochkommt.
Mehr als 5000 Raketen wurden an diesem Morgen in Richtung israelischer Städte abgefeuert – eine verheerende Offensive der Hamas, die in der Dunkelheit der Nacht begann. Terroristen durchbrachen um 6.30 Uhr morgens die Grenzanlagen und begannen, in israelische Städte und Dörfer einzudringen. Zur gleichen Zeit fand in der Nähe der Kibbutzim Kfar Aza und Re’im das Nova-Festival statt, das viele junge Erwachsene, darunter auch Dor, anzog, die an dem festlichen Wochenende der jüdischen Feiertage teilnehmen wollten.
„Die Leute schrien, rannten in alle Richtungen. Es war wie in einem Albtraum, aus dem es kein Entkommen gab.“
Er und andere Festivalbesucher versuchten zunächst, durch die Straßen zu fliehen. Kämpfer der Hamas griffen die Festivalbesucher an, nahmen Geiseln und schossen um sich. In der Panik beschloss Dor, sich mit drei anderen zu verstecken. Eine Entscheidung, die ihm das Leben rettete. Sie krochen direkt unter die Bühne, während über ihnen das Chaos ausbrach. „Ich hörte die Schreie der Frauen und den schrecklichen Lärm der Gewalt, die sich direkt über uns abspielte“, erzählt er.
Von seinem sicheren Standpunkt aus konnte er hören, wie die Nukhba, die Elitekommandos der Al-Qassam-Brigaden, Anweisungen gaben und sich auf den nächsten Angriff vorbereiteten. Ein Moment der Stille wird jäh unterbrochen, als ein Handy neben ihm aufleuchtet und ein Geräusch von sich gibt. Wie ein Katalysator für die angespannte atemlose Stille öffnet sich die Tür zur Realität und die Spannung in der Luft wird greifbar. Dor erzählt mir, er habe den Herzschlag in seinen Ohren deutlich gespürt, als die Kämpfer ihre Nähe bemerkten.
„In diesem Moment wurde mir klar, dass jeder Fehler das Ende bedeuten könnte.“
Nach einer gefühlten Ewigkeit – sieben Stunden, in denen die Zeit stillzustehen schien – beschloss Dor schließlich, mit seinen Kameraden zu fliehen. Irgendwann erreichten sie die Straße in Richtung der Stadt Ofakim. Als sie versuchten, einen sicheren Übergang zu finden, wurden sie von der israelischen Armee angehalten. Die Situation spitzte sich erneut zu, da sie für Mitglieder der Hamas gehalten wurden, die sich als Israelis verkleidet hatten.
Schließlich fand Dor mithilfe von Verwandten Zuflucht in Beersheva, wo er nach und nach begriff, was geschehen war. Er hatte zuvor LSD eingenommen, die Wirkung ließ nun nach, was seinen Blick auf die Realität wieder schärfte.
Rückblickend bemerkte Dor, dass die psychedelische Droge ihm geholfen habe, das unmittelbare Trauma abzuschwächen, da er die Ereignisse surreal erlebte, wie in einem Film, und nicht als Realität, die ihn einholte. So sagt er es zumindest. Trotzdem nahm er die Hilfe des Gesundheitsministeriums an, eine psychologische Beratung für Opfer des 7. Oktober zu erhalten.
In der israelischen Armee hatte Noam früher als Koch gedient. Nach unserer Reise in den Sinai hatte er zunächst einige Zeit in Thailand verbracht, dann war er viel in Berlin unterwegs und lebte während der Pandemie in San Sebastián, Spaniens klassischer Hochburg der gehobenen Gastronomie. Heute arbeitet er in einer veganen Käserei in einem Kibbuz, einem dynamischen Start-up-Unternehmen. Laut dem Good Food Institute sind israelische Unternehmen weltweit führend in der Lebensmitteltechnologie für alternative pflanzliche Proteine und stehen bei den Gesamtinvestitionen in diese alternative Proteinindustrie an zweiter Stelle hinter den USA. Israel ist das Land mit der höchsten Anzahl an Veganern pro Kopf.
Noam hat bei den psychologischen Tests keine ausreichenden Ergebnisse erzielt und wird daher zum jetzigen Zeitpunkt nicht rehabilitiert. Das heißt, er muss nicht wieder in der Armee dienen. Aber er hat sich auf dem internationalen Parkett der Marktwirtschaft behauptet.
Dor sagt, er wolle sich nicht an militärischen Auseinandersetzungen beteiligen. Er kämpft lieber um das Überleben seines Start-up-Unternehmens.
Adi strebte nach Bildungs- und Lebenserfahrungen jenseits der israelischen Grenzen, kehrte jedoch in den Schoß ihrer Familie zurück und findet sich in der klassischen Rolle wieder.
Liron ist seinem Patriotismus und seiner Verantwortung gegenüber dem Staat Israel treu geblieben. Aber noch ist nicht abschließend klar, worauf er sich als Soldat in Gaza eingelassen hat.
All diese Geschichten der jungen Menschen vereint eine komplexe Identität, die sich aus einer Mischung von Patriotismus, Weltoffenheit und dem Wunsch nach individuellen Erfahrungen und Freiheiten zusammensetzt. Noch ist unklar, wie die Geschichte Israels nach dem Trauma des 7. Oktober und des Krieges weitergeht. Aber sie alle stehen nun an deren Anfang.