235 Stücke non-stop: Orgelmarathon in Leipzig – Kultur | ABC-Z

Am Ende hat es sich dann doch ein bisschen hingezogen. 22 Stunden Orgelmusik, das ist nicht nur für den Organisten eine schier übermenschliche Anstrengung, das verlangt auch vom Hörer ausdauernde Konzentrationsfähigkeit. Sonst plätschert alles so dahin, und man hat nach einer Stunde genug. Aber wer an diesem Freitagmittag in die Leipziger Thomaskirche kam, um sämtliche Orgelwerke von Johann Sebastian Bach am Stück live zu erleben, der war darauf gefasst und mit Sitzkissen und teils sogar mit Schlafsack gut vorbereitet. Die Schlange war lang vor dem Eingang zur Kirche, drinnen verteilte sich das Eröffnungspublikum allerdings so, dass jeder ausreichend Platz hatte.
Viele Bach-Fans hatten wohl auf die kostenlose Live-Übertragung auf Arte gesetzt, zumal dort auch passende Pausenfilmchen und sogar Bilder von der Raumstation ISS versprochen waren. Aber im Ernst: Wer braucht Bilder aus dem Weltall, wenn das Firmament so nah ist wie bei diesem Orgelfest in der Thomaskirche? Es geht schließlich um den Himmel in uns. Der stellt sich ein, wenn in einem dieser Geniestreiche Bachs die Musiksprache der alltäglichen Begriffssprache so nahe kommt, dass man in einen Zustand des Erkennens gelangt, der fast schon religiös ist. Es geht also nicht nur darum, sich an den barocken Klangbildern zu ergötzen, den spektakulär niederrauschenden „Wasserflüssen von Babylon“ oder dem himmlischen Zimbel-Gebimmel. Bach zaubert darüber hinaus aus der enormen Strenge der damaligen Kompositionsregeln ein Wunderwerk an musikalischer Freiheit, sprengt die Grenzen des Irdischen.
Zum Kunstgenuss gehört diesmal in besonderer Weise ein konzentriertes Verständnis
Auch der hervorragende Organist Johannes Lang sprengt Grenzen. 235 Stücke nonstop – das ist irre. Bis auf die Choralstudien der Neumeister-Sammlung sind die Werke nicht nur den überlieferten Noten nach als authentisch verbürgt, sondern auch durch ihre musikalische Qualität und Bachs Personalstil. Die 1986 gefundenen Neumeister-Choräle sind nicht von dieser Qualität und zerdehnen ein bisschen die Konzerte im Morgengrauen. Man hat sich nach mehr als 12 Stunden Hörerfahrung auf einen Erwartungslevel eingestimmt, den man nicht unterboten haben will.
Zum Kunstgenuss gehört diesmal in besonderer Weise ein konzentriertes Verständnis, aber auch ein ruhiges Publikum, eine entspannte Atmosphäre. Die Thomaskirche bietet genau dies, es gibt kaum Nebengeräusche, einige Besucher haben sich nun auf den Bänken der Empore langgestreckt, ein Kissen unter den Kopf geschoben, lassen sich in einen angenehmen Halbschlaf versetzen. Ein Junge hat einen Schlafsack dabei und sich gänzlich zur Ruhe gelegt. Bach wirkt auch aufs schlafende Gemüt, es herrscht Ruhe und Frieden.
Die ersten Sonnenstrahlen machen munter, aber nur kurz. Bald sticht die Sonne mit Macht durch die hellen Butzenscheiben, und der Körper schreit nach Schlaf. Um halb elf Uhr vormittags ist dann endgültig ein Punkt erreicht, an dem man dem Orgelspieler, dem ausgezeichneten, aber nun doch ein bisschen hartnäckigen Thomasorganisten Johannes Lang zurufen möchte: Es ist genug, lass gut sein. Aber ein wenig muss man noch durchhalten, noch eine Choralbearbeitung lang, noch ein Duetto manualiter in E, ein Duetto in F, eines in G und eines in A, bis schließlich die prächtige Schlussfuge ein wuchtiges Ende setzt.
Die Bach-Orgel in der Thomaskirche ist ein besonderes Instrument, ein historisch bestens informierter Neubau
Die großen Fugen sind natürlich das Beste von Bach, von den bescheidensten Titeln – Präludium und Fuge – kann man das Größte erwarten. Wie das durch die verschlungenen, engmaschig verwobenen Melodiefäden donnert und pfeift und strahlt und zirpt, man kommt aus dem Staunen nicht mehr heraus. Und wenn die ganz tiefen Register kommen, dann knattert das in die Magengrube, als schwebte ein Helikopter über der Kirche.

:Wird das jemand aufführen?
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Solche Klangwucht würde man von einer Barockorgel nicht unbedingt erwarten, aber die Bach-Orgel in der Thomaskirche ist ein besonderes Instrument, ein historisch bestens informierter Neubau. Die äußere Form orientiert sich an der Orgel der 1968 gesprengten Leipziger Universitätskirche, die Bach 1717 bespielt und als offizieller Sachverständiger begutachtet hatte. Bei der Disposition der 61 Register, die alle eine eigene definierte Klangfarbe haben – deshalb die vielen verschiedenen Pfeifen –, hat man sich an einem Entwurf von Bachs Onkel Johann Christoph Bach in Eisenach orientiert. Den Bau der Orgel hat Bach als Kind hautnah miterlebt. Später fordert er als Gutachter immer wieder diese Eisenacher Klangfarben.
61 Register – darunter Spezialitäten wie die „Schweitzerflöth“ oder das „Super-Gemshörnlein“ – lassen sich in weit mehr Varianten kombinieren, als es Orgelstücke von Bach gibt. Für Johannes Lang zu verlockend, um nicht jedem Stück eine eigene Registrierung zu verpassen. Dafür mussten sechs Registrandinnen und Registranden, die auch die Noten auflegten, in Extraproben geschult werden. Auf einer modernen Orgel kann man die Registereinstellungen auf dem Bordcomputer speichern und durch ein Fußpedal nacheinander abrufen – oft wechselt auch innerhalb eines Stücks die Klangfarbe, um einen Stimmungswechsel zu erzeugen oder die Struktur des Stücks klarer hervorzuheben. Nicht ganz einfach, das analog fehlerfrei hinzubekommen. Aufmerksame Besucher verfolgen dies in dieser überlangen Nacht mit Adleraugen und erörtern ihre Beobachtungen während der kurzen Pausen in der Sakristei bei Tee und Gebäck. Man spricht deutsch, niederländisch, italienisch, japanisch, englisch, französisch. Der Bach-Fanklub ist ein weltweites Netz. Und nicht nur die Kenner waren sich einig: Livestream ist kein Ersatz für das wahre Kunsterleben. Mag es auch noch so anstrengend sein.





















