Geopolitik

Israel-Kehrtwende des Kanzlers: „Daher begrüßen wir, dass der Kanzler unserer Forderung folgt“, heißt es aus SPD-Fraktion | ABC-Z

„Völlig unsinnig und haltlos“ sei es, Solidarität mit Israel und Sorge um die humanitäre Lage in Gaza zum „Gegensatz“ zu machen, sagt Unions-Fraktionsvize Röttgen. Die SPD begrüßt den Kurswechsel des Kanzlers bei Waffenexporten – und ruft nach weiteren Schritten.

Aus der Union wächst Druck auf Kanzler Friedrich Merz (CDU), seine Entscheidung zur Einschränkung von Waffenlieferungen an Israel zu erklären. Kanzleramtsminister Thorsten Frei (CDU) wiederum wies Vorwürfe zurück, Deutschland vollziehe einen riskanten Kurswechsel in seinen Beziehungen mit dem jüdischen Staat: „Es darf überhaupt kein Zweifel daran bestehen, dass die Grundlinien der deutschen Israel-Politik unverändert bleiben“, sagte Frei am Samstag. „Deutschland unterstützt Israel weiter bei allem, was notwendig ist, seine Existenz und seine Sicherheit zu verteidigen.“

Merz will mit seiner am Freitag verkündeten Entscheidung verhindern, dass deutsche Rüstungsgüter bei einer israelischen Militäroffensive im Gaza-Streifen eingesetzt werden können; Israel hat angekündigt, seinen Einsatz dort auszuweiten und Gaza-Stadt einnehmen zu wollen. Frei betonte: Man agiere aus Sorge um die humanitäre Lage in der Region. Sollte Gaza-Stadt eingenommen werden, könne das einen hohen Blutzoll in der Bevölkerung bedeuten. Nicht betroffen vom Exportstopp sei „all das, was der Selbstverteidigung Israels dient, also beispielsweise im Bereich der Luftabwehr, der Seeabwehr“.

Norbert Röttgen (CDU), für Außen- und Verteidigungspolitik zuständiger Unionsfraktionsvize im Bundestag, schlägt ähnliche Töne an: „Deutschland steht unbezweifelbar fest und verlässlich an der Seite Israels, wenn dessen Sicherheit bedroht oder angegriffen wird. Gleichzeitig und in voller Übereinstimmung damit setzt sich die Bundesregierung für die Beendigung der katastrophalen humanitären Situation in Gaza ein. Beides in einen Gegensatz zu stellen, ist völlig unsinnig und haltlos.“

Es stehe außer Frage, dass den jüdischen Staat „auf Grundlage seiner faktischen Herrschaft die Pflicht trifft, die angemessene Versorgung der Bevölkerung zu gewährleisten. Leider kommt Israel dieser Pflicht nicht nach, entgegen dem andauernden Drängen aller seiner Verbündeten“, sagt Röttgen WELT. Die Bundesregierung gehe wie die anderen europäischen Regierungen davon aus, „dass eine Ausweitung des Krieges eine weitere Verschlechterung der humanitären Situation nach sich ziehen würde. Die Bundesregierung darf – rechtlich und politisch – hierzu durch Waffenlieferungen für den Krieg in Gaza keine Unterstützung leisten.“

Röttgen wies Mutmaßungen zurück, dass es sich bei Merz‘ Entscheidung um ein Zugeständnis an den Koalitionspartner SPD handle; aus der Fraktion der Sozialdemokraten waren Forderungen zu einem Lieferstopp laut geworden. „Es handelt sich um eine Entscheidung der Bundesregierung als Reaktion auf die Beschlüsse des israelischen Sicherheitskabinetts, den Krieg und die militärische Kontrolle in Gaza auszudehnen“, betont Röttgen. „Das ist eine rein außenpolitische Entscheidung der Bundesregierung, die aber auch auf der Grundlage der deutschen Vorschriften über Waffenexporte ergangen ist. Solche können nicht genehmigt werden, wenn Grund zu der Annahme besteht, dass die Waffen nicht im Einklang mit dem Völkerrecht eingesetzt werden.“

Beim Koalitionspartner wird der Kurswechsel begrüßt. SPD-Chef und Finanzminister Lars Klingbeil nannte diesen eine „richtige Entscheidung“. Der außenpolitische Sprecher der Sozialdemokraten im Bundestag, Adis Ahmetović, sagt WELT, „dass die israelische Regierung ihre ursprünglichen Militärziele aus den Augen verloren hat. Es geht ihnen nicht mehr primär um die Freilassung der Geiseln und die Entmilitarisierung der Hamas.“ Sie betreibe stattdessen eine „Politik von Vertreibung und Aushungern in Gaza und der Annexion“ im Westjordanland. „Das stellt einen klaren Bruch von internationalem Recht dar und konterkariert beispielsweise das Ziel der Freilassung der Geiseln. Daher begrüßen wir, dass der Bundeskanzler unserer Forderung folgt.“

Zudem seien weitere Schritte nötig, um Israel zum Umlenken zu bewegen, sagt Ahmetović. Dies forderten nicht nur „die große Mehrheit der europäischen Staaten, sondern auch über 60 Prozent der Menschen in Israel, Ex-Geiseln und Angehörige der noch überlebenden Geiseln“. Die Ausweitung des Krieges „über fast ganz Gaza“ werde zu mehr Hunger, Sterben von palästinensischen Kindern und Frauen sowie einem höheren Risiko des Todes von Geiseln führen. „Daher werden Maßnahmen wie eine Ganz- oder Teilaussetzung des EU-Assoziierungsabkommen und die Sanktionierung gegen israelische Minister erforderlich sein, um den Druck gegenüber Premierminister Netanjahu noch weiter zu erhöhen. Die Bundesregierung hat dafür unsere Unterstützung.“

Ahmetović betont zugleich: „Die SPD steht zum Existenzrecht Israels, das sich aus unserer historischen Verantwortung mit zum Schutz jüdischen Lebens ableitet.“ Sie verurteile die Hamas für den Terrorangriff am 7. Oktober 2023 „und die zynische Instrumentalisierung ihrer eigenen Bevölkerung“ und der israelischen Geiseln, deren „sofortige und bedingungslose Freilassung“ man fordere. „Wir wollen, dass die deutschen Geiseln endlich wieder nach Hause kommen.“

Während die SPD den neuen Merz-Kurs stützt, ist der Unmut in den Reihen der Union gewaltig. Der CDU-Bundestagsabgeordnete und Junge-Union-Chef Johannes Winkel schrieb kurz nach Bekanntwerden der Entscheidung auf X: „Israel macht ab heute die Drecksarbeit für uns, nur ohne deutsche Waffen.“

Scharfe Kritik wurde auch aus der CSU laut, die nach eigenen Angaben nicht in die Entscheidung eingebunden worden war. Ihr Landesgruppenchef im Bundestag, Alexander Hoffmann, kritisierte in der „Bild am Sonntag“ den geplanten Lieferungsstopp als „Abkehr von Jahrzehnten außenpolitischer Kontinuität gegenüber Israel“. Diese sei „zumindest erklärungsbedürftig“.

Die Arbeitsgruppe Auswärtiges der Unionsfraktion wollte sich am Sonntagnachmittag bei einer kurzfristig anberaumten Videoschalte besprechen. Dabei sollte Merz‘ außenpolitischer Berater Günter Sautter zugeschaltet werden. Im Vorfeld verschickte die CDU-Zentrale ein Hintergrund-Papier, in dem Merz‘ Entscheidung ausgeführt wird. In dem Schreiben, das WELT vorliegt, wird deutliche Kritik an Israels Regierung laut.

Es nimmt zudem Bezug auf die Sicherheitslage in Deutschland und Europa – wobei Israel in entscheidende Mitverantwortung genommen wird: „Diese Eskalation trägt auch zur Verschärfung gesellschaftlicher Konflikte in Deutschland und Europa bei, die wir auch im Sinne unserer Verpflichtung gegenüber dem Staat Israel vermeiden müssen.“ Ein Mitglied des Auswärtigen Ausschusses kritisiert im Gespräch mit WELT: „Damit wird Israel verantwortlich gemacht für die Eskalation der Sicherheitslage, zum Vorgehen propalästinensischer Gruppen und ihrer Verantwortung kein einziges Wort.“

Linke für „vollständigen und bedingungslosen Exportstopp“

Und wie kommt Merz‘ Kurswechsel in der Opposition an? Für Grünen-Fraktionschefin Britta Haßelmann ist die Aussetzung bestimmter Rüstungsexporte „ein wichtiger Schritt“: „Angesichts der katastrophalen Lage ist diese Entscheidung notwendig.“ Die vom israelischen Kabinett beschlossene Ausweitung des Krieges sei „katastrophal für die Zivilbevölkerung in Gaza und die immer noch von der Terrororganisation Hamas festgehalten Geiseln“.

Zugleich betont Haßelmann: „Selbstverständlich gilt die Staatsräson.“ Merz und Außenminister Johann Wadephul (CDU) „sollten jetzt diplomatisch jede Chance nutzen, sich für ein Ende des Krieges, einen Waffenstillstand, die Freilassung der Geiseln und ein Abwenden der humanitären Katastrophe einzusetzen. Es braucht einen politischen Prozess für Friedensverhandlungen.“

Lea Reisner, Sprecherin für internationale Beziehungen der Linke-Fraktion, sagt WELT: „Nach humanitärem Völkerrecht ist Deutschland verpflichtet, nicht nur selbst keine Kriegsverbrechen zu begehen, sondern aktiv zu verhindern, dass von deutschem Boden aus Waffen für solche Verbrechen bereitgestellt werden. Der Internationale Gerichtshof hat das akute Risiko schwerster Menschenrechtsverletzungen in Gaza festgestellt und Israel zum Schutz der Zivilbevölkerung verpflichtet. Die Einschränkung von Waffenlieferungen nach Israel ist daher ein überfälliger Schritt.“

Aus Reisners Sicht reicht dies längst nicht aus: Nötig seien ein „vollständiger und bedingungsloser Exportstopp, die Aussetzung des EU-Assoziierungsabkommens, gezielte Sanktionen gegen die extremistischen Minister der Netanjahu-Regierung, die Anerkennung Palästinas als souveräner Staat – und massiver internationaler Druck für die Freilassung aller Geiseln und ein Ende der Angriffe“. Alles andere sei „die bewusste Entscheidung, Völkerrechtsbruch zu tolerieren und nicht alles zu versuchen, um die katastrophale Situation schnellstmöglich zu beenden“.

AfD-Chef Tino Chrupalla sprach sich im ARD-Sommerinterview für einen Stopp von Waffenlieferungen aus: „Unsere Position, was zum Beispiel Waffenlieferungen in Krisen- und Kriegsgebieten angeht, ist klar. Die haben wir von Anfang an, auch im Wahlprogramm, immer abgelehnt, und dazu stehen wir auch.“ Chrupalla sprach von „Verbrechen“, die durch die israelische Armee an Zivilisten, auch Kindern, begangen würden und aufgearbeitet werden müssten.

Für seine Partei sei klar, dass Israel ein Partner und ein befreundetes Land sei. Aber auch Freunde müsse man kritisieren, wenn sie politisch falsch lägen. Kein Unrecht rechtfertige weiteres Unrecht. Chrupalla: „Also hier muss es darum gehen, dass die Bundesregierung sich dafür einsetzt, die Geiseln freizubekommen, und man natürlich Druck auch auf Israel ausübt.“

Johannes Wiedemann ist Leitender Redakteur Politik Deutschland.

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