IS-Anschlag in Berlin: Nach dem Terror lebe er mit einem „Vertrauensverlust allen im Vergleich zu“, sagt der Angegriffene | ABC-Z

Der 19-jährige Syrer Wassim Al M. steht vor Gericht, weil er am Berliner Holocaust-Mahnmal auf einen Touristen einstach und ihn fast tötete. Das Opfer musste seinen Beruf aufgeben und traut sich bei Dunkelheit kaum noch raus. Der Verteidiger des Angeklagten wendet sich dann an das Opfer.
Dieser eine Februar-Abend in Berlin begegnet Iker B. M. bis heute, wieder und wieder. In Albträumen bei Nacht, mitten am Tag, in sogenannten Flashbacks, manchmal mehrmals die Woche. Jederzeit könne die Erinnerung ihn überwältigen, Schwindel erzeugen, Angst auslösen, erzählt der 31-jährige Spanier an diesem Mittwochmorgen im Kriminalgericht der deutschen Hauptstadt. „Das ist wie Schüttelfrost“, sagt er. „Eine Sache, die sich nicht vermeiden lässt.“
Er höre dann den Schrei einer Frau. Der Klang versetze ihn zurück an diesen Abend, gegen 18 Uhr im Holocaust-Mahnmal nahe dem Brandenburger Tor. „Das war der Moment, in dem ich rausrannte.“ Kurz zuvor fügte ihm ein mutmaßlicher Terrorist eine 14 Zentimeter lange Schnittwunde am Hals zu.
Iker B. M. wurde an jenem Abend Opfer eines mutmaßlichen antisemitischen und islamistischen Anschlags, ausgeführt von einem mutmaßlichen Sympathisanten des sogenannten Islamischen Staats (IS). Der 19-jährige Wassim Al M., der 2023 als unbegleiteter minderjähriger Flüchtling aus Syrien nach Deutschland kam und mit befristeter Aufenthaltsgenehmigung in einer Gemeinschaftsunterkunft in Leipzig lebte, steht seit November als Angeklagter vor dem Berliner Kammergericht.
Laut Anklage hatte der junge Mann einen Juden töten wollen und deshalb das Holocaust-Mahnmal als Anschlagsort ausgewählt. Im Zuge des Gaza-Kriegs habe Al M. sich „im Sinne der salafistisch-dschihadistischen Ideologie“ des IS radikalisiert und geglaubt, einen „religiösen Auftrag“ zur Tat zu haben, sagte Oberstaatsanwalt Michael Neuhaus zum Prozessauftakt. „Er wollte ein Zeichen setzen gegen die freiheitliche Gesellschaft, in der wir leben, und gegen Juden, die er für das Leid der Welt verantwortlich machte.“
Hierfür, so die Anklage, habe er sich ein Messer mit 16 Zentimeter langer gebogener Klinge beschafft und kurz vor der Tat im Internet seine Gefolgschaft zum IS bekundet. Der Generalbundesanwalt wirft Al M. versuchten Mord, gefährliche Körperverletzung und eine versuchte Mitgliedschaft in einer ausländischen terroristischen Vereinigung vor.
Der Ernährungsspezialist Iker B. M. aus Bilbao war demnach ein Zufallsopfer. Für seine Aussage vor Gericht an diesem Mittwoch ist er eigens aus Spanien angereist, berichtet von extremem emotionalen und psychischen Stress, wieder in der Stadt des Anschlags zu sein und dem mutmaßlichen Täter zu begegnen. Eine Dolmetscherin übersetzt seine Aussage aus dem Spanischen.
Erst einen Tag vor der Tat, berichtet der Mann im hellen beigefarbenen Pullover, sei er nach Berlin gereist. Er habe das Wochenende mit einer deutschen Freundin und einem Freund aus Polen verbringen wollen. Vor der Tat hätten sie Museen besucht, gemeinsam gegessen, in einem Café gesessen.
Am frühen Abend hätten sie das Holocaust-Mahnmal betreten, ein großes, frei zugängliches Feld aus verschieden hohen Betonstelen. Der Labyrinth-artige Bau soll an die gut sechs Millionen Jüdinnen und Juden erinnern, die in der Schoah von den Nationalsozialisten ermordet wurden.
Mit den zwei Freunden sei er durch das Stelenfeld gelaufen, erzählt B. M. vor Gericht, als er eine „Silhouette“ in der Dunkelheit hinter sich bemerkt habe. Dann sei alles sehr schnell gegangen: Von links habe der Mann den Arm um seinen Hals gelegt. „Ich hatte gar keine Zeit zu reagieren. Kurz danach habe ich den Schnitt am Hals bemerkt.“
Er sei zu Boden gegangen, woraufhin der Täter erneut versucht habe zuzustechen. Das Messer habe er abwehren können, so B. M., und dabei seine Hand verletzt. Stark verletzt habe er die Flucht ergriffen und sei aus dem Stelenfeld gerannt. „Beim Laufen habe ich hinter mir diesen Ruf gehört. Ich weiß nicht, wie man das auf Arabisch sagt: ‚Allah ist groß‘.“
Von Passanten sei Iker B. M. erstversorgt worden, noch am Tatort mehrmals in Ohnmacht gefallen und wieder zu sich gekommen. Im nahe gelegenen Charité-Krankenhaus wurde er kurz darauf notoperiert, in ein künstliches Koma versetzt. Er überlebte den Anschlag offenbar nur knapp, habe rund zwei Liter Blut durch die klaffende Schnittwunde quer über den Hals verloren. Ein spanischsprachiger Arzt aus Venezuela habe ihn operiert. „Der hat gesagt, ich hätte sehr viel Glück gehabt.“
Narben und massive psychische Belastung bleiben
Bis heute plagten den Spanier schwere Folgen des Attentats. Am Hals, zwischen den schwarzen Barthaaren, trägt er eine lange Narbe, weitere an der Wange und der Hand. Durch den Durchschnitt eines Muskels am Hals sei die Mobilität sowie das Empfinden und Fühlen an Teilen des Halses und Kinns eingeschränkt, ein Druckschmerz bleibe. Ob diese Wunden vollständig verheilen, sei unklar.
Vor dem Anschlag habe er im Radsport mit Spitzensportlern gearbeitet, heute sei er arbeitsunfähig und lebe von Erspartem sowie Unterstützung der Eltern, bei denen er kürzlich auch wieder eingezogen sei. „Weil ich auch nicht in der Lage bin, alleine in einer Wohnung zu schlafen.“ Vom deutschen Justizministerium habe er eine Einmalzahlung von 5000 Euro aus einem Fonds für Terroropfer erhalten, der spanische Staat habe ein Hilfeersuchen wiederum gänzlich abgelehnt.
Iker B. M. wurde eine posttraumatische Belastungsstörung diagnostiziert, die er mit Psychopharmaka behandelt, wie ein vor Gericht verlesener Arztbrief bescheinigt. Kurz nach der Tat habe er die Wohnung nicht verlassen können. „Ich hatte Angst vor allem.“ Bis heute traue er sich in der Dunkelheit kaum raus, berichtet er, es erinnere ihn an den Tatabend. Wenn er es in ein Café schaffe, dann sitze er mit dem Rücken an der Wand, um die Straße beobachten zu können. Überraschende Berührungen von hinten könne er nicht ertragen.
„Ich versuche, so normal zu leben, wie es geht“, sagt B. M. Doch sein soziales Leben sei durch all das enorm eingeschränkt. Was vorerst bleibe? „Der Vertrauensverlust allen gegenüber.“
Der Angeklagte Al M. sitzt über weite Teile der Zeugenbefragung nach vorn gebeugt auf der Anklagebank und blickt stumm zu Boden, Arabisch-Dolmetscher übersetzen ihm den Prozess über Kopfhörer. Nach der Aussage des Geschädigten lässt er eine Botschaft ausrichten. Sein Mandant drücke ihm „ehrlich empfundenes Bedauern über die Geschehnisse“ aus, sagt sein Verteidiger Daniel Sprafke an Iker B. M. gerichtet. Wassim Al M. habe die „Hoffnung, dass Sie aus diesen schrecklichen Erlebnissen irgendwann wieder in ein normales Leben finden können“.
Al M. wurde wenige Stunden nach der Tat im nahegelegenen Tiergarten festgenommen. Hose und Hände des 19-Jährigen seien noch voller Blut gewesen, teilte die Bundesanwaltschaft mit. An früheren Prozesstagen sagten mehrere Polizisten im Gerichtsprozess aus, die an der Festnahme beteiligt waren. Ihnen zufolge habe Al M. die Frage, ob er die Tat begangen habe, durch Nicken bejaht und in einer Vernehmung kurze Zeit später ausgesagt, er habe einen Juden töten wollen.
Die Verteidigung des Angeklagten legt am Mittwoch allerdings Widerspruch gegen die Verwertung der Aussagen ein. Al M. sei nicht darüber belehrt worden, in jener Befragung als Tatverdächtiger vernommen zu werden und laut Strafprozessordnung das Recht zu haben, sich nicht zur Sache und den Vorwürfen zu äußern.
Für den Prozess sind zwölf Verhandlungstage angesetzt, von denen noch acht ausstehen. Ein Urteil wird für Januar erwartet.
Politikredakteur Kevin Culina berichtet für WELT über Gesundheitspolitik, die Linkspartei und das Bündnis Sahra Wagenknecht. Er berichtet zudem regelmäßig über Antisemitismus, Strafprozesse und Kriminalität.





















