Interview zum Prozess gegen die Vergewaltiger von Gisele Pelicot | ABC-Z
Monsieur Courbet, wann haben Sie zum ersten Mal von diesem Fall gehört?
Ende 2020, als Dominique Pelicot dabei erwischt wurde, wie er Kundinnen im Supermarkt unter den Rock filmte. Zunächst ahnte die Polizei nicht, welche Dimension der Fall annehmen würde. Das Ausmaß wurde schlagartig klar, als sie die Fotos und Videos von Gisèle Pelicot fand.
Wie waren die Reaktionen?
Bestürzend. Niemand konnte es zunächst glauben. Als Gisèle Pelicot zum ersten Mal mit den Vorwürfen auf dem Polizeirevier konfrontiert wurde, stritt sie alles ab. Das könne nicht ihr Mann sein, sagte sie, denn der sei ein „super Typ“, ein liebender Ehemann, Vater und Großvater.
Lassen sich die Taten vor Gericht beweisen?
Da Pelicot viele der Vergewaltigungen seiner Frau aufgezeichnet hat, ist die Beweislage erdrückend: Es gibt rund 4000 Fotos und Filmschnipsel, die zeigen, wie sie bewusstlos im Bett liegt, während die Männer sich an ihr vergehen. Pelicot ist somit sowohl der Hauptbeschuldigte als auch der Hauptbelastungszeuge der Ermittler. Es ist paradox, aber wahr: Er ist der Grund, warum der Prozess stattfinden kann.
Wie haben Sie sich als Journalist auf den Fall vorbereitet?
Vor zwei Monaten habe ich den 360 Seiten langen Untersuchungsbericht zugespielt bekommen. Nach der Lektüre war klar, um was es sich handelt, und wir beschlossen, umfangreich zu berichten.
Sie sind bei jedem Prozesstag im Gericht dabei. Wie muss man sich die Situation dort vorstellen?
Aufgrund der besonderen Umstände, es stehen ja 51 Männer vor Gericht, ist der Prozess außergewöhnlich lang, insgesamt 69 Tage. Anders als in Deutschland gibt es in Frankreich keine Pausen zwischen den Verhandlungstagen, sondern der Prozess findet durchgehend an jedem Werktag statt, von 9 Uhr morgens bis meistens 19 oder 20 Uhr abends. Das erhöht den Druck auf die Justiz und auch auf uns Berichterstatter. Zumal das Interesse an dem Fall weltweit enorm ist.
Der letzte vergleichbare Großprozess in Frankreich war der Bataclan-Prozess. Die Situation hier ist quasi spiegelverkehrt: Damals gab es einige Täter und viele Opfer. Hier gibt es viele Täter, aber nur ein Hauptopfer, die 72 Jahre alte Gisèle Pelicot. Was ist sie für eine Frau? Wie erleben Sie sie im Gerichtssaal?
Die ersten drei Tage hat sie während der Verhandlung kein einziges Wort gesagt und auch keinerlei Reaktionen gezeigt. Es schien fast so, als falle es ihren Kindern schwerer als ihr selbst, im Gerichtssaal ihren Peinigern gegenüberzusitzen. Besonders ihre Tochter weint unaufhörlich. Vorige Woche musste sie den Saal verlassen, weil sie es nicht mehr ausgehalten hat. Ihre Mutter blieb. Sie hörte aufmerksam den langen Debatten zu, die mitunter sehr technisch waren, aber auch quälende Details aus ihrem Privatleben verhandelten. Gisèle blieb bei all dem ruhig und strahlt Würde aus und Stolz.
Und als sie dann zum ersten Mal das Wort ergriff…
… beeindruckte sie ganz Frankreich. Sie sprach anderthalb Stunden, ohne Pause und ohne Skript. Ihre Worte waren klar und ernst und sie strahlte keine Feindseligkeit aus, als sie ihre Geschichte von der Aufdeckung der Tat bis zum heutigen Tag erzählte. Sie fragte sich, was den Mann, mit dem sie 50 Jahre lang verheiratet war, zu seiner Tat getrieben hat. Sie beschrieb, wie es für sie war, die Filmaufnahmen von sich – bewusstlos im Bett – zu sehen: „Die Männer haben mich behandelt wie eine Stoffpuppe“. Doch selbst, als die gegnerischen Anwälte versuchten, sie anzugreifen, blieb sie unerschrocken: Nein, sie habe geschlafen und sei nicht wach gewesen – , nein, sie sei keine Schauspielerin. So ging das in einem fort, und man fragte sich, wie es wohl in ihr zugehen mag. Sie hat das dann selbst beantwortet, als sie irgendwann sagte, äußerlich sehe sie ja okay aus, aber im Innern liege sie „in Trümmern“.
Warum findet der Prozess überhaupt öffentlich statt?
Gisèle Pelicot hat das kurz vor Prozessbeginn so entschieden. Sie hätte den Ausschluss der Öffentlichkeit beantragen können und dem wäre stattgegeben worden. Doch sie wollte für alle Frauen da draußen sprechen, wie sie sagte, die wie sie „unter Drogen gesetzt wurden und es vielleicht nie erfahren werden“.
Wieso hat sie das so spät entschieden?
Anfangs war ihr das gar nicht recht, und sie stritt darüber mit ihrer Tochter. Caroline Darian, die in Avignon ausgesagt hat, dass ihr Vater sie ebenfalls bewusstlos und Nacktfotos von ihr gemacht habe, hat über das Verbrechen ein Buch geschrieben und einen Opferhilfe-Verein gegründet. Sie vor allem wollte den Prozess in die Öffentlichkeit bringen, um anderen Opfern zu zeigen, dass man sich zur Wehr setzen kann. Sie hat ihre Mutter überzeugt.
Selbst die Freigabe ihres vollständigen Namens hat Gisèle Pelicot bewilligt. Das ist erstaunlich, denn alle in der Familie werden nun für immer mit diesen Verbrechen in Verbindung gebracht werden.
Auch das hat sie so entschieden. Sie möchte, hat sie gesagt, dass die Menschen sich später an eine Gisèle erinnern, die stark war und tapfer und sich nicht einschüchtern ließ. Ich bezweifle jedoch, dass ihre Strategie aufgehen wird. Die Wahrscheinlichkeit ist doch sehr groß, dass der Name vor allem mit den monströsen Taten in Verbindung gebracht werden wird. Dabei heißt sie inzwischen gar nicht mehr Pelicot. Ihre Scheidung wurde am ersten Prozesstag bekannt gegeben. Aber sie möchte für den Prozess mit dem Namen angesprochen werden, den sie während ihrer fünfzigjährigen Ehe trug.
Wie reagiert die französische Öffentlichkeit? Ein solches Verbrechen in einem Dorf bei Avignon…
Zunächst war das Interesse gering. Das mag damit zu tun haben, dass alles, was nicht in Paris stattfindet, in Frankreich erst einmal nicht so wichtig genommen wird. Dazu kam das Ende der Sommerferien, die Rentrée. Alle sind mit der Rückkehr in die Schule und an den Arbeitsplatz beschäftigt. Anfangs waren wir das einzige überregionale Medium im Saal, aber das blieb nicht lange so. Das Interesse wuchs schlagartig, und unsere Meldungen wurden uns aus den Händen gerissen. Ein AFP-Video zum Prozessauftakt wurde elf Millionen Mal heruntergeladen.
Wie erleben Sie den Haupttäter, Dominique Pelicot?
Er sieht sehr durchschnittlich aus, wie übrigens die meisten Großkriminellen. Die Beschreibung vom netten Nachbarn trifft es daher genau. Er hätte eigentlich letzte Woche aussagen sollen, doch er wurde krank und seine Aussage vertagt.
Was sagen die Experten: Ist er ein Psychopath, gilt er als schizophren?
Bislang sagen die Fachleute, er habe kein psychologisches Problem, sondern ganz genau gewusst, was er tat. Er ist sicherlich einer der gefährlichsten französischen Kriminellen der letzten Jahrzehnte, ein Perverser, der tagsüber den netten Opa gab und sich nachts in ein Vergewaltigungsmonster verwandelte.
Welche Fragen muss der Prozess beantworten?
Viele. Es geht nicht nur darum, wie es zu den Verbrechen kommen konnte, sondern auch darum, die Definition von einvernehmlichem Sex zu hinterfragen. Das ist gesellschaftlich relevant, gerade in Frankreich, wo MeToo die längste Zeit nicht wirklich ernst genommen wurde. Politisch und juristisch könnte der Prozess neue Maßstäbe setzen.
„Chemische Unterwerfung“ lautet einer der Hauptvorwürfe der Anklage. Was genau ist darunter zu verstehen?
Der Begriff ist relativ neu im französischen Recht. Als Tatbestand existiert er erst seit 2018. Es geht dabei um die heimliche Verabreichung von Substanzen wie K.o.-Tropfen, um ein Opfer willenlos zu machen. Die Anklage kann sich darauf aber erst ab 2018 beziehen, doch der Missbrauch begann bereits 2011. Daher lautet der Vorwurf für die vorherige Zeit Vergewaltigung sowie Reproduktion und Verbreitung intimer Bilder ohne Einwilligung.
Wie ist die Situation im Gerichtssaal?
Beklemmend. Der Saal ist klein, und alle sitzen sehr eng aufeinander, der Richter, die Täter, das Opfer, die Kinder, die Zuschauer. Man hört alles, selbst wenn geflüstert wird. Auch die 32 Männer, die angeklagt, aber nicht in Untersuchungshaft sind, weil sie nur einmal ins Haus der Pelicots kamen, nehmen im Zuschauerraum Platz. Darunter sind IT-Experten, Krankenpfleger, Lastwagenfahrer, Journalisten, einer ist an Aids erkrankt, und die Männer hatten den Sex ohne Kondom vollzogen. Sie sitzen um mich herum, neben mir, hinter mir, vor mir. Selbst in den Mittagspausen trifft man sie in den Restaurants der Stadt. Das ist schon mir äußerst unangenehm. Ich möchte mir nicht ausmalen, was erst die Opferfamilie durchmacht.
Und wie reagieren die Angeklagten?
Sie wehren sich mehrheitlich gegen den Vorwurf. Nur sechs geben zu, schuldig im Sinne der Anklage zu sein. Der Rest plädiert auf unschuldig. Die 18 Mehrfachtäter plus Dominique Pelicot, die auf der Anklagebank in einem Glaskasten sitzen, werden es schwer haben zu beweisen, dass sie nicht wussten, dass Gisèle Pelicot betäubt war. Sie kamen bis zu sechsmal ins Haus, um sich an ihr zu vergehen. Doch sie argumentieren, dies seien keine Vergewaltigungen gewesen seien oder allenfalls „unwissentliche Vergewaltigungen“. Das wird die Hauptfrage des Prozess sein: Ab wann kann man von Vergewaltigung sprechen?
Was ist mit „unwissentlicher Vergewaltigung“ gemeint?
Damit wollen die Angeklagten sagen, dass sie ahnungslos waren. Dass sie glaubten, es handele sich um ein merkwürdiges Spiel des Ehepaars Pelicot: ein „freizügiges Szenario“, in dem Madame sich schlafend stellt und dem Sex zustimmt, während der Ehemann zuschaut und teilnimmt. Dass Gisèle Pelicot also nur so getan habe, als sei sie bewusstlos. Oder dass sie freiwillig die Substanzen genommen habe, um sich in einen Tiefschlaf zu versetzen. Diese Argumentationsmuster habe ich von den Anwälten der Angeklagten erfahren. Tatsächlich handelt es sich bei diesem Verfahren nicht um einen Prozess, sondern um 51 Prozesse. Bei Dominique Pelicot ist die Sache ziemlich klar. Er wird wahrscheinlich die Höchststrafe erhalten, 20 Jahre Haft. Auch die Mehrfachtäter werden um eine Gefängnisstrafe kaum herumkommen. Doch was geschieht mit dem Dreiviertel der Kerle, die nur einmal da waren und sagen: Klar, das war eine merkwürdige Situation, aber nicht zu durchschauen.
Die Männer durften, ehe sie sich an Gisèle heranmachten, kein Parfüm auftragen, keinen Alkohol trinken und nicht rauchen, um sie durch den Geruch nicht zu wecken. Wie kann man da noch von Ahnungslosigkeit sprechen?
Verschiedene Anwälte haben mir gesagt, dass sie mit mangelnder Erziehung und mangelnder Intelligenz argumentieren werden. Dass diese Männer also einfach zu blöd und zu unaufgeklärt gewesen seien, um sich die offensichtlichen Fragen zu stellen: Was ist hier los? Will diese Frau überhaupt, was ich hier gerade tue?
Man kann sich das kaum vorstellen.
Vorige Woche hat ein Polizist von den Videos mit Gisèle Pelicot berichtet. Wie sie ohnmächtig im Bett liegt, regungslos wie ein toter Sack. Die Anwälte der Angeklagten hielten dagegen, dass 28 Sekunden nicht aussagekräftig seien, da man nicht wisse, was vorher und nachher geschehen sei. Doch was der Polizist beschrieb, war drastisch: Es kam sogar zum Oralsex und dann hört man im Hintergrund Dominique, wie er „Stop“ ruft, weil seine bewusstlose Frau zu ersticken drohte. Auch hierzu hat sich die Verteidigung schon eine Strategie überlegt: Dass die Männer sich kaum freiwillig hätten filmen lassen, wenn sie geahnt hätten, dass es sich um ein Verbrechen handelt. In der Beurteilung wird daher die Intentionalität eine zentrale Rolle spielen, die Frage also, ob für Dummköpfe also dieselben Kriterien gelten wie für Arschlöcher.