Interview mit Yishai Sarid über Israel: „Ohne Hemmungen freidrehen“ | ABC-Z

taz: Herr Sarid, das letzte Mal sprachen wir uns vor zwei Jahren, anlässlich Ihres Romans „Schwachstellen“. Da sich wenige Tage danach der Terroranschlag der Hamas ereignete, entschieden wir uns gegen eine Veröffentlichung unseres Interviews. Inwieweit hat Sie der 7. Oktober und alles, was darauf folgte, verändert?
Yishai Sarid: Der 7. Oktober war für alle Israelis ein riesiger Schock. Wir hatten nicht damit gerechnet, dass unsere Verteidigungssysteme komplett versagen würden. Dass eine solche Katastrophe früher oder später eintreten würde, hat mich aber nicht überrascht. Denn Gaza wartete viele Jahre wie eine Bombe nur darauf zu explodieren und Netanjahu hatte nach einem Teile-und-herrsche-Prinzip die fanatischsten Fraktionen der palästinensischen Gesellschaft gefördert. Der Angriff der Hamas und alles, was folgte, haben die israelische Gesellschaft sehr negativ verändert. Als jemand, der hier lebt und nirgendwo anders hin kann, weil dies einfach mein Land ist, ist es sehr schwer, damit klarzukommen.
taz: Prägt Sie das auch als Schriftsteller?
Sarid: Ich glaube nicht. Meine Romane haben sich immer schon mit der Psychologie der israelischen Gesellschaft befasst. In „Monster“ etwa habe ich den tiefen Einfluss der Schoah auf unser Denken und Fühlen untersucht. Die Idee von Israel als jüdischem Staat dreht sich darum, dass dieser Staat garantiert, dass wir Juden nicht wieder hilflos sind, dass unsere Kinder nicht abgeschlachtet, entführt und gefoltert werden. Doch weil genau so etwas am 7. Oktober passiert ist, waren die Reaktionen so heftig.
Im Interview: Yishai Sarid
Yishai Sarid,
ist 1965 in Tel Aviv geboren, wo er bis heute lebt. Nachdem er als Nachrichtenoffizier tätig gewesen war, studierte er in Jerusalem und an der Harvard University und arbeitete später als Staatsanwalt.
Der Roman „Chamäleon“ ist bei Kein & Aber erschienen, aus dem Hebräischen übersetzt von Ruth Achlama, 288 Seiten, 25 Euro.
taz: Ihr neuester Roman „Chamäleon“ ist gerade in Deutschland erschienen. Er spielt in der Gegenwart und handelt von einem israelischen Journalisten, der seine Seele für Ruhm verkauft. Wie erlebt dieser Journalist, Shai Tamus, den 7. Oktober?
Sarid: In den 90ern war Tamus ein kleiner Star. Nun ist er aber sehr frustriert, weil er Theaterkritiken schreibt, die niemand mehr liest, sein Gehalt ständig gekürzt wird – und ihn auch seine Frau nicht mehr wirklich liebt. Die Chance, für einen rechtspopulistischen TV-Kanal zu arbeiten, ergreift er mit beiden Händen. Dass die Regierung, der Premierminister und seine gesamte Politik in ihrer grundlegenden Pflicht, uns zu schützen, am 7. Oktober völlig versagt haben, sieht Tamus nicht. Alles ist an diesem Tag explodiert. Doch in seinen Augen sind ganz andere Schuld: die Armee, die Linken, die Demonstranten gegen die Pläne zur Justizreform.
taz: Was für ein Mensch ist Shai Tamus? Ist er einfach Opportunist oder gibt es auch ideologische Gründe, die ihn zu einem giftenden TV-Kommentator machen?
Sarid: Am 7. Oktober hat Tamus seine Ansichten und seine Fernsehauftritte schon völlig angepasst an die Erwartungen des Senders, seines Publikums und auch des Premierministers und seiner Berater, die ihn fördern und manipulieren. Was Tamus antreibt, ist vor allem das Gefühl, seit Langem nicht mehr gehört und nicht genug gewürdigt zu werden und dass sich die Welt ohne ihn weiterentwickelt hat. All das beleidigt ihn zutiefst.
taz: Nachdem Tamus in Jaffa von einer Gruppe junger Menschen angegriffen wurde, behauptet er in den sozialen Medien, aber ohne es wirklich zu wissen, die Täter seien Araber gewesen. Das verschafft ihm Aufmerksamkeit und Anerkennung.
Sarid: Vor dem Vorfall in Jaffa versuchte Tamus in seinen Texten, gemäßigt, elegant und ausgewogen zu sein. Lange entschärfte er seine Artikel am Tag nachdem er sie verfasst hatte. Doch heute scheint sich kaum noch jemand für solche Kommentatoren zu interessieren. Um zu überleben, muss Tamus wie die meisten anderen werden: ohne Hemmungen freidrehen und Teil eines Theaters aus Clowns, Gladiatoren und Extremisten werden, das wir heute auch in Israel erleben.
taz: Ihr Sittengemälde eines großen Teils von Israel stimmt wirklich pessimistisch. Wo finden Leser*innen, wo finden Sie in Ihrer Geschichte Hoffnung?
Sarid: Das Geheimnis von Netanjahus Erfolg besteht darin, die spaltenden Punkte der israelischen Gesellschaft anzusprechen, die Gräben zu vertiefen und mit den Wunden zu spielen. So konnte er sich eine sehr treue Basis aufbauen, die etwa die Hälfte der Bevölkerung ausmacht. Mit der Fortführung des Gaza-Krieges will er die Wunde des 7. Oktober offen und blutend halten. Aber es gibt auch großartige Menschen in Israel. Kurz nach dem Terroranschlag der Hamas – als es noch um legitime Selbstverteidigung und Abschreckung derjenigen ging, die uns vernichten wollen – haben sich viele Menschen als Freiwillige engagiert. So etwa für die aus der Nähe des Gaza-Streifens Evakuierten, die von dieser absolut unfähigen Regierung keinerlei Unterstützung erhalten hatten. Die Atmosphäre im Land ist nun aber von sehr viel Hass und Gewalt geprägt.
taz: Gehören Shais Ehefrau Alona und ihre beiden erwachsenen Kinder zu den positiven Beispielen?
Sarid: Alona ist eine gemäßigte, normale Person. Früher war sie erfolgreiche Museumskuratorin, wurde ebenfalls an den Rand gedrängt und ergreift die Möglichkeit, mit einem Investor aus den USA zusammenarbeiten, als Chance. Als der Krieg beginnt und ihr Sohn rekrutiert wird, kämpft Alona darum, einen klaren Kopf zu behalten. Doch das Problem ist: Wie viele Menschen kann sie andere, die von extremen Ideologien getrieben werden, nicht wirklich aufhalten. Sie sind keine Ideologen, aber wollen einfach nur ihr Leben leben, ihre Kinder großziehen und ihren Lebensunterhalt verdienen.
taz: Immerhin nahmen Alona Tamus und ihre Tochter vor dem Krieg an einigen Demonstrationen gegen die illiberale Justizreform der Netanjahu-Regierung teil, die sich heute gegen die Fortführung des Krieges und für die Freilassung der Geiseln aus Gaza richten.
Sarid: Ich selbst gehe regelmäßig auf die Demonstrationen und halte auch Reden. Aber das ist eine Bewegung, die weitgehend aus säkularen und liberalen, jüdischen Israelis besteht. Shai Tamus mag die Demonstrant*innen von Anfang an nicht, weil er sie als diejenigen wahrnimmt, die ihn früher an den Rand gedrängt haben. Als rechter Fernsehkommentator merkt Tamus, dass die Leute ihn in seinem liberalen Viertel in Tel Aviv nun überhaupt nicht mehr mögen. Daher geht er an andere Orte, wo die Leute ihn bewundern – und so richtet er immer noch mehr Schaden an.
taz: Diese anderen Orte sind im Roman teilweise von rechtsextremen Kahanisten beeinflusst. Da ist zum Beispiel der Polizeichef Jerusalems, der gegenüber Tamus vom Aufbau des dritten Tempels fabuliert. Mit genau diesem Thema haben Sie sich auch in einem Roman aus dem Jahr 2015 befasst, der in Deutschland noch unveröffentlicht ist.
Sarid: Als der Roman erschien, warfen mir die Leute vor, Science-Fiction zu schreiben. Doch aufgrund seiner aktuellen Bezüge ist „Der Dritte“ heute fast ein dokumentarisches Buch. Es erzählt die Geschichte der letzten Monate des Dritten Tempels in Jerusalem. Dieser Tempel existiert in Wirklichkeit noch nicht. Um ihn zu bauen, müsste die Al-Aqsa-Moschee, das drittwichtigste muslimische Heiligtum, zerstört werden. In den vergangenen Jahren hat die Bewegung, die den Dritten Tempel bauen will, jedoch hier in Israel stark an Einfluss und Macht gewonnen. Sie wird in der aktuellen Regierung durch Itamar Ben-Gvir, den Minister für nationale Sicherheit, vertreten.
taz: Und wovon handelt Ihre Geschichte?
Sarid: Von einem jüdischen Königreich, das nach einem Atomangriff den Platz des heutigen Israel einnahm. Religiöse Gerichte haben säkulare ersetzt, religiöser Fanatismus herrscht vor. Alle Palästinenser und Ausländer wurden vertrieben. Es gibt einen mächtigen König und jenen Dritten Tempel. Für diese religiös-nationalistischen Fanatiker erfüllt dieses Königreich ihre Fantasien. Aber natürlich bringt all dies viel Leid und Zerstörung mit sich – und bedeutet schließlich das Ende der jüdischen Souveränität, wie es in unserer Geschichte bereits zweimal geschehen ist. Dies ist der verheerende Weg, auf den Israel derzeit geführt wird.
taz: Wird Ihr nächstes Buch in Kontrast dazu positiver, vielleicht sogar eine Utopie?
Sarid: Darin wird es auch um sehr positive, bewundernswerte Charaktere gehen. Ich bin überzeugt, dass es manchmal eine klare Unterscheidung zwischen richtig und falsch geben muss. Aber ich versuche, meine Protagonisten in ihrer Komplexität zu verstehen. Shai Tamus zeichne ich nicht als Monster und mit ihm empfinde ich irgendwie auch Mitleid. Selbst in „Der Dritte“ mache ich mich nicht über die religiösen Fanatiker lustig. Denn ich habe verstanden, wie stark und gefährlich diese tiefen religiösen Sehnsüchte sind – und dass sie ihre Fantasie vom Aufbau eines dritten jüdischen Tempels um keinen Preis aufgeben werden. In Israel gibt es Leute, die völlig faschistische Ansichten vertreten, aber ich habe auch enge Freunde, gute Menschen, die einfach die Hoffnung verloren haben. Aktuell ist es für Leute wie mich, die Veränderungen wollen, sehr schwer, ihre Ansichten gegen die große Mehrheit zu vertreten.