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Interview mit Ex-Offizier: „In Kursk tut sich Russland schwerer als im Donbass“ | ABC-Z

Kann der neue US-Präsident Trump für einen Waffenstillstand sorgen? Der ukrainische Militärexperte Oleksij Melnyk hält das für unwahrscheinlich. Die russische Verhandlungsbereitschaft „wäre vermutlich größer, wenn die Ukraine deutlich mehr Möglichkeiten hätte, tief ins russische Staatsgebiet zu schlagen“, sagt er.

ntv.de: Herr Melnyk, aktuell sprechen sowohl das ukrainische Verteidigungsministerium als auch Trumps Sicherheitsberater Michael Waltz von der Notwendigkeit, die Frontlinie zu stabilisieren. Kiew gibt dies als militärisches Hauptziel für 2025 an. Wie ist das zu bewerten?

Oleksij Melnyk: Das ist eine richtige und realistische Zielsetzung. Im Prinzip ist es gleichzeitig das Minimal- und das Maximalprogramm. Es ist klar, dass adäquate Verhandlungen auf Augenhöhe erst möglich sind, wenn Russland zumindest nicht mehr bedeutend vorankommen kann. Der politische Effekt einer Stabilisierung der Front wäre groß. Russlands Geländegewinne haben sich in den letzten Monaten beschleunigt, aber es ist nicht so, als ob Moskau der strategische Durchbruch gelungen wäre. Weil Russland seit mehr als 14 Monaten fast ununterbrochen angreift, entsteht der Eindruck, als ob die Russen gerade auf dem großen Vormarsch wären und die Ukraine sich nur stets zurückziehen würde. Diesen Trend umzukehren, wäre wichtig.

Oleksij Melnyk ist Oberstleutnant a.D. der ukrainischen Armee und Co-Direktor der Programme der internationalen Sicherheit an der Kiewer Denkfabrik Zentr Rasumkowa. Zwischen 2005 und 2008 war der ehemalige Kampfpilot erster Berater des ukrainischen Verteidigungsministers.

Oleksij Melnyk ist Oberstleutnant a.D. der ukrainischen Armee und Co-Direktor der Programme der internationalen Sicherheit an der Kiewer Denkfabrik Zentr Rasumkowa. Zwischen 2005 und 2008 war der ehemalige Kampfpilot erster Berater des ukrainischen Verteidigungsministers.

(Foto: Zentr Rasumkowa)

Wie ist die aktuelle Lage in der Region Donezk, wo die wichtige Stadt Pokrowsk immer stärker unter Druck gerät und die Russen sich auch dem Regierungsbezirk Dnipropetrowsk nähern, der von Bodenkämpfen noch nicht betroffen war?

Das Erreichen der administrativen Grenzen der Region Donezk [die von Russland annektiert, aber nicht vollständig erobert wurde] ist eines von Russlands Hauptzielen. Ich denke auch, dass es das realistische Maximum ist, das die Russen vorerst erreichen könnten. Eigentlich hätten sie nach all ihren taktischen Erfolgen seit Beginn der Offensive im Oktober 2023 angesichts ihrer Verluste eine operative Pause einlegen müssen – und sie werden dies irgendwann auch für eine gewisse Zeit machen müssen.

Ansonsten ist die Lage um Pokrowsk und in der Region durchaus kritisch, aber nicht katastrophal. Dass die Ukrainer weiterhin keinen richtigen Frontdurchbruch zugelassen haben, ist ein positives Zeichen, denn der wohl unvermeidliche Fall von Pokrowsk wurde innerhalb der letzten sechs Monate gefühlt jede Woche vorausgesagt. Sollten die Kämpfe Dnipropetrowsk erreichen, wäre das vor allem politisch unangenehm, denn für die ukrainische Armee machen die administrativen Grenzen der Bezirke kaum einen Unterschied. Generell ist es aber eine strategische Aufgabe für die Ukraine, die Gefahr für die Großstädte Dnipro und Saporischschja, die für die ukrainische Logistik wichtig sind, möglichst klein zu halten.

Schauen wir auf die russische Region Kursk, von der die Ukraine seit August 2024 einen Teil kontrolliert. Russland versucht, die ukrainische Armee dort zurückzuschlagen, doch zu Jahresbeginn gab es auch ukrainische Gegenangriffe. Wie ist Ihre Einschätzung zum aktuellen Stand der Kursker Operation?

Die Situation ist am besten als dynamisch zu bezeichnen. Russland tut sich dort trotz des Einsatzes von nordkoreanischen Soldaten weiterhin deutlich schwerer als im Donbass. Die ukrainische Strategie in der Region lässt sich aktuell vor allem als aktive Verteidigung beschreiben. Das heißt, gewisse Gegenangriffe gibt es, ihre Bedeutung sollte jedoch nicht überbewertet werden. Wichtig ist für die Ukraine in erster Linie die Präsenz dort. Stand jetzt ist das Ziel nicht, so viel Gebiet wie möglich zu besetzen, sondern den Krieg auch nach Russland zu bringen. Kursk soll Moskau Kopfschmerzen bereiten. Das gilt auch mit Blick auf mögliche Verhandlungen irgendwann.

Auch in diesem Winter hat Russland mehrfach die ukrainische Energieinfrastruktur beschossen. Dabei handelte es sich um einige der größten Luftangriffe im gesamten Krieg. Die Stromausfälle halten sich bislang aber in Grenzen. War das russische Vorgehen also kein Erfolg?

Da wäre ich extrem vorsichtig. Das ukrainische Energienetz ist unter starkem Druck, der Schaden ist nachhaltig und die Katastrophe ist weiterhin möglich. Russland setzt im Moment darauf, Stromleitungen und Transformatoren anzugreifen sowie Umspannwerke, die Atomkraftwerke bedienen. Auf diese Atomkraftwerke entfallen rund 40 Prozent der ukrainischen Stromerzeugung. Angesichts des großen Schadens, der Gas-, Kohle- und Wärmekraftwerken bereits zugefügt wurde, wäre es ein großes Problem für die Ukraine, sollte eines der Atomkraftwerke eine Zeit lang vom Netz gehen müssen. Ausschließen kann man das nicht. Denn die Ukraine ist ein riesiges Land, und wie viele Flugabwehrsysteme wir auch immer haben, es ist unmöglich, das gesamte Gebiet vollständig zu schützen.

Aus dem Versprechen von Donald Trump, den Krieg in der Ukraine binnen 24 Stunden nach seinem Amtsantritt zu beenden, ist nichts geworden. Wie umsetzbar wären die Friedensvorschläge, die er dem Kreml machen könnte? Im aktuellen Abnutzungskrieg dürfte Russland sich auf der stärkeren Seite sehen.

Im Kern geht es um einen Waffenstillstand entlang der Frontlinie, den Verzicht der Ukraine auf eine NATO-Mitgliedschaft und weitere Waffenlieferungen an Kiew, damit Russland nicht wieder angreift. Wir wissen nicht, welche Informationen Putin wirklich über die Situation an der Front bekommt und ob er mit seiner nicht enden wollenden Offensive in der Region Donezk blufft oder ob er wirklich davon ausgeht, dass die Lage für seine Streitkräfte rosig aussieht. Selbstbewusst wirkt er aber durchaus. Und wir dürfen uns keine Illusionen machen: Putin geht es unverändert um die Vernichtung der Ukraine. Dass gewisse Kompromisse mit Blick auf die NATO-Mitgliedschaft Kiews möglich sind, ist klar. Doch ob Russland sich damit zufriedengibt, wenn es doch vor allem die sogenannte „Entmilitarisierung“ der Ukraine anstrebt, ist fraglich.

Heißt das also, dass ein Waffenstillstand 2025 ein eher unwahrscheinliches Szenario ist?

Das würde ich so unterschreiben. Unabhängig davon, wer gerade US-Präsident ist, sehe ich dafür keine Grundlage, zumal die Ukraine zunächst, wie bereits angesprochen, dringend die Front stabilisieren sollte. Natürlich könnte die Lage von den „schwarzen Schwänen“ beeinflusst werden, also von völlig unerwarteten Ereignissen auf der Seite des Feindes. Darauf setzen darf man aber nicht. Putins Wunsch nach einem Waffenstillstand wäre vermutlich größer, wenn die Ukraine deutlich mehr Möglichkeiten hätte, tief ins russische Staatsgebiet zu schlagen. Dafür fehlt allerdings auf der westlichen Seite der politische Wille. Im russisch-ukrainischen Krieg ist daher auch 2026 mit aktiven Kampfhandlungen zu rechnen.

Zu kaum einem Thema haben die Regierungen von Biden und Trump eine gemeinsame Position. Aber sowohl Bidens Sicherheitsberater Jake Sullivan als auch sein Nachfolger Michael Waltz glauben, dass die Ukrainer das Mindestalter für den Wehrdienst senken sollten, vielleicht sogar von aktuell 25 auf 18 Jahre. Wie sehen Sie das?

Die Altersgruppe zwischen 18 und 25 Jahren mag nicht die größte sein und vielleicht macht sie keinen größeren Unterschied, aber es ist nicht von der Hand zu weisen, dass jüngere Menschen zu gewissen Frontaktivitäten besser geeignet sind. Es geht hier aber auch ums Prinzip. Die Verfassung der Ukraine verpflichtet die Bürger zur Vaterlandsverteidigung im Kriegsfall. Warum das für 24-Jährige de facto nicht gilt, für 25-Jährige aber schon, ist eine Frage, auf die es keine sachliche Antwort geben kann – auch nicht mit Verweis auf die schwierige demografische Lage. Für mich ist das vor allem gefährlicher Populismus, denn dadurch werden falsche Akzente gesetzt. Es wird quasi automatisch mitgedacht, dass diese Menschen allesamt sterben werden, was nicht der Fall ist. Richtig wäre, zu betonen, dass es um die Erfüllung einer wichtigen Bürgerpflicht geht. Die Menschen ziehen in den Verteidigungskrieg, um gemeinsam mit ihrem Land zu überleben, nicht um zu sterben.

Trump bedeutet vor allem Ungewissheit. Trotzdem ist nicht zu erwarten, dass die militärische Hilfe an die Ukraine in Kürze eingestellt wird, weil Trump Waffenlieferungen als Druckmittel sowohl auf Kiew als auch auf Moskau einsetzen möchte. Mittelfristig ist das allerdings durchaus denkbar. Ist Europa darauf ausreichend vorbereitet, auch mit Blick auf die Bundestagswahl in Deutschland?

Auf der positiven Seite stehen Kooperationen, auch mit deutschen Rüstungsunternehmen, die es erlauben, auf dem ukrainischen Staatsgebiet Waffen und Munition zu produzieren. So sagte Präsident Wolodymyr Selenskyj kürzlich, dass mehr als 30 Prozent der von der Ukraine eingesetzten Waffen zu Hause hergestellt worden seien, was ohne die Zusammenarbeit mit europäischen Konzernen nicht möglich gewesen wäre. Ansonsten bin ich aber nicht der Meinung, dass der Ernst der Stunde von allen in Europa erkannt wurde, gerade mit Blick auf die enttäuschenden Fortschritte bei der Produktion der Artilleriemunition. Über die Gefahren durch Donald Trump wird seit einem Jahr gesprochen, doch getan wurde nicht viel. Mit Blick auf die Wahl in Deutschland sehe ich für die Ukraine zwar keine großen politischen Risiken. Es ist aber bei jedem möglichen Ausgang eher fraglich, ob der politische Wille da sein wird, die Maßstäbe der Ukraine-Unterstützung neu zu denken.

Mit Oleksij Melnyk sprach Denis Trubetskoy

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