Integration und Abschiebung in Herrsching: Realität und Herausforderungen – Starnberg | ABC-Z

Als im November 2015 etwa 300 Geflüchtete nach Herrsching kamen, war die Hilfsbereitschaft und Solidarität in der Ammerseegemeinde groß. Aus dem Unterstützerkreis ging der Verein „Wir schaffen das“ hervor, der sich bis heute in seiner Begegnungsstätte „Café Blabla“ für die Interessen der Asylbewerber und deren Integration einsetzt. 2023 wurde die Initiative mit dem Tassilo-Kultursozialpreis der SZ ausgezeichnet. Zum zehnjährigen Bestehen können die Betreiber des interkulturellen Treffpunkts auf eine umfangreiche Liste individueller Erfolge zurückblicken. Dennoch ist dort im Moment die Stimmung eher gedrückt – denn die ursprüngliche Willkommenskultur im Lande weicht gerade einer rücksichtslosen Abschiebepraxis.
Silvana Prosperi kennt aus der Praxis im Blabla einige Geflüchtete, die trotz aller Bemühungen, hier Fuß zu fassen, akut von Rückführungen bedroht sind: In der derzeitigen Situation werde „versucht, für alle Probleme, die es im Land gibt, einen Sündenbock zu finden: die Migration“. Die Behauptung, es würden in erster Linie Straftäter abgeschoben, weist sie entschieden zurück. Stattdessen treffe es etwa junge Leute in Ausbildung: „Es gehen Briefe an 18-jährige Mädchen, die bei ihrer Familie wohnen, sie sollen innerhalb einer Woche das Land verlassen. Das sind Mädchen, die auch in ihrem Heimatland noch nie auch nur einen Tag allein unterwegs waren“, sagt Prosperi. Die beiden jungen Afghaninnen sollen ins Erstankunftsland Griechenland zurückgeschickt werden und haben mit Unterstützung einer Anwältin Einspruch gegen den Bescheid formuliert.
Besonders tragisch ist der Fall von Cennet G., die nach einer Rückführung in ihre türkische Heimat um ihr Leben fürchten muss. Die 47-Jährige ist im Sommer 2023 vor ihrem gewalttätigen Mann geflohen, nachdem er sie mehrmals geschlagen und mit einem Messer bedroht hatte. Gemeinsam mit ihrem Sohn Can gelangte sie über sechs Stationen nach Herrsching. Sie soll nun in ihre türkische Heimat „rückgeführt“ werden, obwohl ihr Mann gedroht hat, sie umzubringen. Auf den Schutz der türkischen Polizei kann sie nicht vertrauen, zumal sie der kurdischen Minderheit im Lande angehört.
„Ich habe große Angst“, sagt sie und kämpft mit den Tränen. Ihr Sohn ergänzt, dass seine Mutter nach der Nachricht des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF) wie unter Schock stand und tagelang nicht essen konnte. Cennet G.s Asylantrag wurde als „offensichtlich unbegründet“ abgewiesen, daraufhin wurden ihr Anfang September Aufenthaltsgestattung und Arbeitserlaubnis entzogen. Auf Anfrage von Prosperi verwies das Starnberger Landratsamt in diesem Fall auf die Härtefallkommission. Eine Wiederaufnahme des Asylverfahrens wäre nur möglich, wenn neue Sachverhalte vorlägen, die Türkei gilt aber als „sicheres Drittland.“
Bis vor Kurzem war Cennet G. ein Jahr lang als Reinigungskraft in der Herrschinger Realschule beschäftigt. Ihr Sohn Can hat Integrations- und Deutschkurse absolviert und einige Monate in einem Restaurant gearbeitet. Anschließend trat er eine Lehre als Fachbauarbeiter im Herrschinger Ortsteil Breitbrunn an und besuchte dazu die Berufsschule im 40 Kilometer entfernten Peiting. Doch jetzt ist ihm die Ausbildungserlaubnis entzogen worden, weil er angeblich nicht zur Klärung seiner Identität beigetragen habe: Dabei hatte er seinen Personalausweis beim BAMF abgeben müssen, worüber das Landratsamt aber offenbar nicht informiert war.
Auf der Gegenseite gibt es aber auch viele Biografien, die für die Betroffenen und die rund 20 Aktiven im Blabla in ermutigenden Bahnen verlaufen. Da wäre beispielsweise ein junger Afghane, der „seit acht Jahren bei einer Gartenbaufirma arbeitet, die es ohne ihn vermutlich nicht mehr gäbe“, erzählt Prosperi, „ein anderer besucht demnächst die Meisterschule für Parkettleger“. Eine junge Frau aus Somalia lässt sich gerade zur zahnärztlichen Fachangestellten ausbilden; eine indische und eine afghanische Mutter haben die Prüfung zur Kinderpflegerin abgelegt und arbeiten inzwischen in einer Herrschinger Kita. Die Afghanin lernte erst in Deutschland Lesen und Schreiben, machte den Führerschein und strebt nun die Abschlussprüfung als Erzieherin an. Zwei Familienväter haben noch mal in der Berufsschule die Bank gedrückt und sind jetzt Schreiner- beziehungsweise Installateur-Gesellen.
Viele Kinder sind im Laufe der vergangenen zehn Jahre erwachsen geworden und haben eine Ausbildung abgeschlossen. „Sie bereichern unseren Alltag“ und ihre soziale Einstellung gegenüber Kindern und älteren Menschen sei vorbildlich, findet Prosperi.
Das Café Blabla trage dazu bei, „Extremismus und Radikalismus abzuwehren“ und leiste „ein gutes Werk für unsere Gesellschaft“, sagte Starnbergs Landrat Stefan Frey anlässlich des Festakts zum zehnjährigen Bestehen. Vor mehr als 100 Gästen im Herrschinger Kurparkschlösschen versprach er: „Wir kämpfen uns gemeinsam durch den Dschungel, um unsere Handlungsspielräume zu nutzen.“
Die nahezu täglich geöffnete Begegnungsstätte stellt im weiten Umkreis eine einzigartige Institution dar. Zu Beginn war das Café in der sozialen Anlaufstelle „Herrschinger Insel“ untergebracht, dann zog es ins Herrschinger Breitwand-Kino um. Als das Kino 2018 schloss, kam es vorübergehend im BRK-Vereinsheim unter. Seit nunmehr sechs Jahren hat der Trägerverein das blaue Häuschen an der Bahnhofstraße angemietet. Dort wird in mehr als zehn Kursen Geflüchteten und anderen Erwachsenen ehrenamtlich Deutschunterricht erteilt, Schüler erhalten Hausaufgabenhilfe – und alle Unterstützung in behördlichen Angelegenheiten.
Das reicht von der Steuererklärung bis zum Antrag auf Arbeitserlaubnis: Der ist selbst dann komplett auszufüllen, wenn ein Arbeitgeber einen Geflüchteten nur für einen Tag zur Probearbeit testen will. Auch dann dauert die Bearbeitung mehrere Wochen. „Wir schaffen das“ ist Träger des Projekts „Raumgeben“, das gezielt Wohnraum für Geflüchtete sucht. So konnten bereits 60 Wohnungen an 150 Personen vermittelt werden, die Initiative wurde 2024 mit dem Integrationspreis des Bezirks Oberbayern ausgezeichnet.

Außerdem finden im Blabla seit drei Jahren innerhalb des Programms „Lebenswirklichkeit in Bayern“ des Innenministeriums Integrationskurse für Frauen statt. Diese umfassen Themen wie „Leben und Arbeiten in Deutschland“ oder „Fit für den Alltag“ und reichen vom Computer- bis zum Schwimmkurs. „Dieses Jahr haben sechs Frauen bei mir Fahrradfahren gelernt“, erzählt Prosperi. Donnerstags können sie im Werkraum des Cafés gemeinsam nähen oder Schmuck für den Weihnachtsmarkt anfertigen; am Freitagnachmittag findet dort ein Gitarrenkurs für Kinder statt.
Gerade die Beratungsaufgaben und die Vermittlung von Arbeits- oder Lehrstellen hätten in den vergangenen Jahren stark zugenommen, sagt Prosperi. So mancher Aktiver fühle sich damit überfordert: „Die Bürokratie hat schon einige das Handtuch schmeißen lassen.“ Doch der Helferkreis sei noch immer weitgehend intakt und könne auf die Unterstützung der Gemeinde bauen. Umgekehrt verweisen Behörden und Volkshochschulen auf das Café Blabla, dessen Ruf weit über Herrsching hinaus reicht. Auch dank dieser Institution herrsche in Herrsching ein „friedliches Miteinander“, sagt der Vorsitzende des Trägervereins „Wir schaffen das“, Claus Wecker: „Bei uns gab es im Gegensatz zu manchen anderen Gemeinden eigentlich nie Stress.“
Und auch die ehrenamtlichen Rechtsberater, Jobvermittler, Wohnungsmakler, Lehrer und Kursleiter ziehen persönlichen Gewinn aus ihrem Engagement. Es bereichere ihre Weltsicht, sagt Prosperi: „Mit ihrer Warmherzigkeit und Spontaneität, mit ihren Berichten von der Flucht und Not zu Hause oder ihrem Schmerz über die Entbehrung von Heimat und Familie relativieren sie unsere Selbstzufriedenheit im gesättigten Deutschland.“





















