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Insolvenzen: „Das zweite Halbjahr verspricht einen Sturm von Firmenpleiten“ | ABC-Z

Die Zahl der Insolvenzen ist in Deutschland rasant gestiegen. Eine Prognose rechnet für 2024 mit einem Plus von 21 Prozent und sorgt sich insbesondere wegen zunehmend vieler Fälle sogenannter Großinsolvenzen. Zwei Branchen sind besonders betroffen, eine weitere extrem gefährdet.

Die anhaltende Pleitewelle in Deutschland trifft zunehmend große Unternehmen – mit weitreichenden Folgen. „Aktuell gilt häufig: Wenn es kracht, dann richtig“, sagt Milo Bogaerts, der Deutschland-Chef von Allianz Trade. 40 Großinsolvenzen meldet der weltweit führende Kreditversicherer für das erste Halbjahr 2024, das sind 37 Prozent mehr als im Vorjahreszeitraum und markiert den höchsten Wert seit 2015.

Aber damit nicht genug: „Große Insolvenzen haben oft einen Dominoeffekt auf viele Unternehmen in der gesamten Lieferkette. Nicht selten werden sie dabei mitgerissen und geraten selbst in den Abwärtssog, der im schlimmsten Fall ebenfalls in der Zahlungsunfähigkeit endet“, beschreibt Bogaerts.

Auch andere Marktbeobachter zeigen sich besorgt. „Das zweite Halbjahr verspricht einen Sturm von Firmenpleiten“, fürchtet Jonas Eckhardt, Partner und Restrukturierungsexperte bei der Beratungsgesellschaft Falkensteg. Auch er verweist auf die sprunghaft gestiegenen Fälle von Großinsolvenzen und sieht deren Anzahl mittlerweile auf einem „besorgniserregend hohen Stand“. Zumal der wirtschaftliche Schaden und auch die Zahl der gefährdeten Arbeitsplätze durch diesen Trend jeweils rasant steigen.

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Laut Allianz Trade liegt der kumulierte Umsatz der großen Pleitefirmen – gemeint sind Unternehmen mit einem Jahreserlös von mindestens 50 Millionen Euro – im ersten Halbjahr schon bei 11,6 Milliarden Euro. Damit wird der Gesamtschaden aus dem Vorjahr bereits nach den ersten sechs Monaten übertroffen.

Der durchschnittliche Umsatz der insolventen Großunternehmen – und damit auch die Schäden für die betroffenen Lieferanten – liegt bei rund 290 Millionen Euro. Das ist ein Plus von 85 Prozent gegenüber dem Vorjahreszeitraum.

Betroffen sind zuvorderst das Baugewerbe und der Einzelhandel und dort in erster Linie die Verkäufer von Mode und Textilien. Aber auch im Dienstleistungssektor sowie bei Möbeln und Haushaltswaren registriert Allianz Trade auffällig viele Großinsolvenzen.

„Die Gründe für diese Häufung sind teilweise sehr unterschiedlich“, sagt Experte Bogaerts. „Einige Unternehmen konnten die fälligen Rückzahlungen von Corona-Darlehen nicht stemmen oder hatten Schwierigkeiten an neue Kredite zu kommen, aufgrund der restriktiveren Vergabe und den wesentlich höheren Anforderungen der Finanzierungspartner. Wieder andere waren von einem einzelnen Großkunden abhängig, der weggebrochen ist.“

Und die Lage dürfte angespannt bleiben. „Die Stimmung bei den Unternehmen ist so schlecht wie lange nicht mehr“, sagt Jürgen Matthes, der Leiter internationale Wirtschaftspolitik am Institut der deutschen Wirtschaft (IW) in Köln. Er sieht einen toxischen Mix aus höheren Energie- und Verbraucherpreisen, einem weltweiten Nachfrageeinbruch und nationalen Problemen wie hohen Arbeitskosten sowie enormen Bürokratie- und auch Steuerlasten.

Und dann seien da noch die internationalen Risikofaktoren, ergänzt Matthes: „Unzuverlässige Lieferketten aus autokratischen Staaten, ein möglicher Taiwan-Konflikt und eine Rückkehr von Donald Trump ins Weiße Haus könnten die Exporteure erheblich treffen.“

Wie hoch der Insolvenzdruck ist, zeigt eine aktuelle Prognose von Allianz Trade. Für 2024 rechnet der Kreditversicherer mit 21.500 Firmenpleiten, das wären 21 Prozent mehr als im Vorjahr. Und das, nachdem es 2023 auch schon ein Plus von 22 Prozent gegeben hatte. Erst im kommenden Jahr sieht Allianz Trade eine Beruhigung der Lage – allerdings nicht in Form eines Rückgangs der Insolvenzzahlen, sondern lediglich durch einen geringeren Zuwachs.

Autoindustrie besonders gefährdet

Besonders stark treffen wird es nach Einschätzung der Experten in den kommenden Monaten verbrauchernahe Branchen, darunter den Mode-Einzelhandel, wo einige Unternehmen ohnehin seit Jahren am seidenen Faden hängen würden. „Sie spüren die aktuelle Kaufzurückhaltung ganz besonders“, begründet Bogaerts. Hinzu kämen weiterhin hohe Container-Frachtraten, die angesichts des bevorstehenden Weihnachtsgeschäfts vielen Unternehmen Sorgen bereiteten.

Der Verband Insolvenzverwalter und Sachwalter Deutschlands (VID) sieht zudem die Automobilwirtschaft gefährdet, angesichts des anhaltenden Umsatzrückgangs dort. „Die Branche steht vor großen Herausforderungen“, sagt der VID-Vorsitzende Christoph Niering. „Schwache Nachfrage bei der E-Mobilität einerseits und bevorstehendes Aus des Verbrenners andererseits: In diesem Spannungsfeld werden Insolvenzen immer wahrscheinlicher.“

Unter Druck bleibe aber auch das Bauhaupt- und Baunebengewerbe, prognostiziert Niering mit Verweis auf die niedrigen Baugenehmigungszahlen. „Und Zinsanreize der Europäischen Zentralbank zeichnen sich nicht ab. Deshalb wird auch hier die Zahl der Insolvenzfälle weiter ansteigen.“

Zwar versuchen sich mittlerweile viele Unternehmen selbst zu sanieren – mithilfe des StaRug, des Unternehmensstabilisierungs- und -restrukturierungsgesetzes. Oder es werden wahlweise Insolvenzen in Eigenverwaltung beantragt oder sogenannte Schutzschirmverfahren, bei denen sich Unternehmen, die eine positive Fortführungsprognose haben und denen zwar eine Überschuldung droht, die aktuell aber noch liquide sind, mittels eines Insolvenzplans neu aufstellen können. Das bestehende Management bleibt dabei üblicherweise an Bord und wird von Restrukturierungsexperten unterstützt.

Eine der Lösungen kann auch ein Verkauf sein. Solche Rettungsmissionen gestalten sich aber zunehmend schwieriger und komplexer. „Hohe Zinsen machen den Erwerb insolventer Firmen teurer oder unattraktiv“, begründet Falkensteg-Berater Eckhardt. „Ferner schrecken unsichere Umsätze aufgrund der allgemeinen Wirtschaftslage potenzielle Investoren ab.“

Carsten Dierig ist Wirtschaftsredakteur in Düsseldorf. Er berichtet über Handel und Konsumgüter, Maschinenbau und die Stahlindustrie sowie über Recycling und Mittelstandsunternehmen.

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