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Mark Fehr über „Geniestreiche aus Kassel“ | ABC-Z

Ein Denkwürdiger Dickhäuter

Kassel war ein Brennpunkt des mit der neuzeitlichen Aufklärung ausbrechenden Forscherdrangs. Die Menschen dieser Epoche förderten bahnbrechende Erkenntnisse zutage, was im Alltag allerdings manchmal reichlich makabere Züge annahm. Nicht immer war der große Geist die treibende Kraft, stattdessen herrschte hier und da die erschreckende Marotte, alles aufzuschneiden, was sich auf einen Seziertisch hieven ließ. Das bekam etwa der bemitleidenswerte Kasseler Elefant zu spüren, post mortem zum Glück. Die Wirren des frühen Kolonialismus hatten das Tier in die Stadt an der Fulda verschlagen. Es gelangte später als Goethe-Elefant sogar zu Prominenz.

Im September 1773 verfrachtete die niederländische Kolonie Ceylon ein zweijähriges Elefantenjunges aus dem heutigen Sri Lanka nach Kassel. Es handelte sich wahrscheinlich um ein königliches Geschenk des niederländischen Prinzen Wilhelm V. von Oranien an Landgraf Friedrich II. von Hessen-Kassel (1720 bis 1785). Lokaler Adel wie Pöbel erfreuten sich an der Kuriosität, die sogleich der landgräflichen Menagerie unterhalb des Weinbergs einverleibt wurde. Für den Elefanten war die Menagerie ein goldener Käfig, in dem man ihn mit Unmengen Gras und Wasser versorgte. Doch beide Hinterfüße wurden angekettet.

Leidensfähiges Tier: Der im Kasseler Naturkundemuseum ausgestellte Goethe-Elefant ist eine der ersten Skelettpräparate eines Elefanten.dpa

Nicht genug damit. Der Elefant soll wohl auch zu seltsamen Auftritten im Kasseler Theater auf die Bühne gezerrt worden sein. Nach einigen Jahren solcher Schikane riss sich das durch den Dauerstress offenbar entnervte Tier eines Tages auf dem Rückweg vom Theater zur Menagerie von seinen Treibern los und stürzte am Hang des Weinbergs zu Tode. Eine andere Variante vom tragischen Ende des Kasseler Elefanten besagt, dass er während eines Einsatzes als Arbeitstier für den Bau der Orangerie umkam.

Wie auch immer, aus Sicht der vom Forscherdrang besessenen Intellektuellen der damaligen Zeit war das Todesdrama ein Glücksfall. Der riesige Schädel weckte auch die Neugier des Universalgelehrten Johann Wolfgang von Goethe. Ihm ging es um den Zwischenkieferknochen, den er schon in Schädeln vieler anderer untersuchter Tierarten entdeckt hatte und nun auch beim exotischen Elefanten nachweisen konnte, einer Art also, die sich ansonsten gravierend von der damals in Europa bekannten Fauna unterscheidet. Der über dem Mund sitzende Zwischenkieferknochen bildet die Spitze des Oberkiefers und hält beim Elefanten die gewaltigen Stoß-zähne, während er bei vielen anderen Tieren oder dem Menschen nur die kleineren Schneidezähne einfasst. Trotz aller Unterschiede zwischen den Arten besitzen alle Zwischenkieferknochen eine charakteristische Gemeinsamkeit, nämlich eine feine Naht in der Mitte, wo der rechte und der linke Teil des Knochens zusammentreffen.

Beim Menschen wächst diese Naht in der Regel noch vor der Geburt oder kurz danach zu, ist aber grundsätzlich vorhanden. Auch das entdeckte Goethe durch die Sektion eines Fötus. Dank dieser emsigen Detektivarbeit konnte die Wissenschaft bald folgern: Alle Lebewesen haben anatomische Gemeinsamkeiten und daher offenbar gemeinsame Wurzeln. Der Mensch dürfte gemäß dieser Vorstellung also tierische Vorfahren gehabt haben.

Der Kasseler Elefant gehörte zu den bedauernswerten Geschöpfen, auf die der Mensch keine Rücksicht genommen hat. Sogar die Elefantenhaut wurde getrennt vom anatomisch wertvolleren Skelett aufbewahrt, präpariert und ausgestopft – einschließlich des Rüssels. Doch verbrannte sie während des verheerenden Bombenangriffs am 22. Oktober 1943, der Kassels Innenstadt vernichtete. Das Skelett dagegen steht noch heute im nach dem Krieg wieder aufgebauten Kasseler Naturkundemuseum.

Eine Kämpferin für Frauenrechte

Neben dem Denkmal von Elisabeth Selbert (1896 bis 1986) auf dem Kasseler Scheidemannplatz kann man sich recht mühelos in das Stadtgefühl der 1950er-Jahre hineinversetzen. Es ist die Zeit, in der die Juristin und Politikerin mit ihrem Einsatz für das Recht und die Gleichberechtigung Impulse setzte, die erst später so richtig zu spüren waren, dafür aber umso nachhaltiger.

Mütter des Grundgesetzes: Die Kasselerin Elisabeth Selbert (rechts) und ihre Mitstreiterinnen im Parlamentarischen Rat im Jahr 1948
Mütter des Grundgesetzes: Die Kasselerin Elisabeth Selbert (rechts) und ihre Mitstreiterinnen im Parlamentarischen Rat im Jahr 1948dpa

Selbert gehört zu den Menschen, die dafür gesorgt haben, dass der Wiederaufbau Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg nicht nur wirtschaftlich und technologisch glückte, sondern auch zu einem gesellschaftlichen Neuanfang führen konnte. Selberts große Stunde schlägt mit der Einberufung des Parlamentarischen Rates, der 1948 ein Grundgesetz für die neue Bundesrepublik beschließen soll. Auf einem Ticket des Frauenbüros der SPD wird Selbert Abgeordnete dieser 65 Personen umfassenden Versammlung – als eine von nur vier Frauen.

„Männer und Frauen sind gleichberechtigt“ lautet seither der erste Satz des zweiten Absatzes im dritten Artikel des Grundgesetzes. So selbstverständlich das heute klingt, so unwahrscheinlich und auch unnötig schien es Selberts Zeitgenossinnen und Zeitgenossen, den Passus in die Verfassung aufzunehmen. In der Verfassung der Weimarer Republik hatte es einen Grundsatz zur Gleichberechtigung zwar auch schon gegeben, nur war er reichlich verbrämt formuliert gewesen. Männer und Frauen sind grundsätzlich gleichberechtigt, hieß es damals.

Grundsätzlich. Jeder Jurist weiß, dass dieses scheinbar harmlose Wörtchen einen Abgrund für Ausnahmen und Ausreden öffnet. Selbert war Juristin und wusste das deshalb genau. Ihr Beharren auf dem einen simplen und unangreifbaren Satz im Grundgesetz zeigt, dass geniale Lösungen manchmal einfach sein müssen. Die Einfachheit zeigt sich hier an der klaren Sprache, die ein Markenzeichen von Selbert war. Das ist bemerkenswert, schließlich hantieren Juristen sonst oft mit sperrigen Formulierungen. Mit Diplomatie und parlamentarischen Gepflogenheiten allein konnte Selbert dem Desinteresse der meisten Ratsmitglieder an einem klaren Gleichheitsgrundsatz nicht beikommen. Deshalb brach sie ein Tabu und spannte die Öffentlichkeit in die Debatte ein. Das war riskant, brachte aber schließlich den Durchbruch.

Visionär aus Kassel: Documenta-Gründer Arnold Bode (links) mit dem damaligen Bundespräsidenten Theodor Heuss auf der ersten Documenta im Jahr 1955.
Visionär aus Kassel: Documenta-Gründer Arnold Bode (links) mit dem damaligen Bundespräsidenten Theodor Heuss auf der ersten Documenta im Jahr 1955.© AKG Pressebild

Nach ihrem unerschrockenen Einsatz für die Demokratie hätte man erwarten können, dass Selbert ihre Karriere mit einem bedeutenden Amt krönen würde. Gern wäre sie Verfassungsrichterin geworden oder Richterin am in den 1950er-Jahren in Kassel eingerichteten Bundessozialgericht. Doch dafür mangelte es an politischer Unterstützung. Das ist das Schicksal vieler Menschen, die sich kompromisslos für ihre Überzeugungen einsetzen und sich damit nicht nur Freunde machen. Immerhin ernannte ihre Heimatstadt Selbert 1984 zur Ehrenbürgerin. Postum wurde auch der 2009 fertiggestellte neue Sitzungssaal des Bundessozialgerichts nach ihr benannt. Manchmal dauert es eben, bis historische Leistungen gewürdigt werden.

Die Geburt der Documenta

Ein 500 Kilometer langer Marsch führt Arnold Bode (1900 bis 1977) Mitte Mai 1945 aus amerikanischer Gefangenschaft zurück in seine Heimatstadt Kassel – oder besser das, was kurz nach Kriegsende davon übrig ist. Er ist schon 44 Jahre alt, hat zwei Weltkriege überlebt und auch sonst ein ereignisreiches Leben hinter sich. Doch seine Glanztat soll erst noch kommen. Zwischen den Schutthaufen rund um den Friedrichsplatz wird Bode zehn Jahre nach seiner Heimkehr die erste Documenta als international führende Ausstellung für moderne Kunst eröffnen.

Der Mann ist ein Visionär. Und er besitzt das nötige Durchhaltevermögen, um seine Vision umzusetzen. Bode nutzte die Gunst der Stunde null, um nachzuholen, was ihm zwölf Jahre lang verwehrt worden war. Schon in den ersten Jahren nach dem Krieg begann er, von einer großen internationalen Kunstausstellung zu träumen, die seiner Vorstellung nach alle vier Jahre in Kassel stattfinden sollte. Er wollte die den Deutschen während des Dritten Reichs vorenthaltene moderne Kunst präsentieren. Die unter den Nazis verbotenen bildenden Künstler sollten eine Öffentlichkeit bekommen, etwa Paul Klee, Ernst Ludwig Kirchner, Ernst Wilhelm Nay, Hans Arp, Max Beckmann, Franz Marc, August Macke oder Wassily Kandinsky.

Buchcover „Geniestreiche aus Kassel“
Buchcover „Geniestreiche aus Kassel“Frankfurter Allgemeine Buch

Anfang der 1950er-Jahre eröffnete sich für Bode die große Chance. Denn Kassel erhielt den Zuschlag für die Bundesgartenschau im Jahr 1955. Der Ausstellungsleiter, ein guter Kontakt von Bode, konnte sich vorstellen, während der Bundesgartenschau auch etwas Kunst zu zeigen. Dass die Kunstausstellung der Bundesgartenschau letztlich die Show stehlen würde, ahnte damals wohl noch keiner – außer vielleicht Bode selbst, der stets groß dachte und sich nicht mit Nebenrollen und Nebenschauplätzen abfand.

Die erste Documenta wurde zu einem so großen Erfolg, dass sie bis heute immer wieder neu stattfindet. Sogar die „Times“ aus London bejubelte den Geniestreich: „Kassel ist in diesem Sommer in die Runde der europäischen Städte zurückgekehrt, von denen sich lohnt, Notiz zu nehmen“, hieß es in einer großen Reportage, in der die international bedeutende Zeitung die Kunstausstellung und die parallele Bundesgartenschau als Beleg für einen gelungenen Wiederaufbau anführte.

Kassel ist eine Stadt, die sowohl für rational-wissenschaftliche Superlative als auch für künstlerisch-emotionale Glanzpunkte steht. Das ist reichlich abstrakt. Aber in den Kapiteln dieses Buches finden sich Beispiele für das Wechselspiel der Disziplinen. Beide Sphären des menschlichen Geistes haben sich in Kassel immer wieder von ihrer besten Seite gezeigt. Daher eignet sich diese Stadt so gut als Treffpunkt für die Weltkunst. Kassel könnte so viele Prädikate haben und für so vieles stehen: für den ersten Sekundenschlag in einem Uhrwerk, für den ältesten Dampfzylinder als Mutter aller Maschinen und einiges mehr. Doch Kassel nennt sich nicht etwa Stadt der Astronomie, Stadt der Dampfkraft, Stadt des Theaters oder Stadt der Musik – was alles gerechtfertigt wäre. Kassel heißt Documenta-Stadt.

Könnte die Documenta auch anderswo stattfinden? Das würde sich manche Metro­pole wohl wünschen. Der streitbare Frankfurter Generalstaatsanwalt Fritz Bauer, ein Fan der modernen Kunst, hatte in den 1960er-Jahren vorgeschlagen, die Documenta an den Main zu holen. Bode bezeichnete dieses Ansinnen als „hoffnungslos“. Für ihn war die Documenta untrennbar mit Kassel verbunden. Aber war es nicht Bode selbst, der die Documenta 1976 fast einmal für die 200-Jahr-Feier der Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten von Amerika an Philadelphia ausgeliehen hätte? Allerdings war das zu einer Zeit, als man ihn schon als Documenta-Leiter abserviert hatte.

Die Art und Weise des Führungswechsels war ziemlich rücksichtslos angesichts der historischen Verdienste Bodes für Kassel, die Kunst und die Welt. Bode musste mit ansehen, wie die Documenta auch ohne ihn florierte, was schmerzhaft gewesen sein dürfte. Doch bewies es, dass die Documenta-Idee so gut war, dass sie auch ohne ihren Erfinder weiterleben konnte. Das ist ein wichtiges Merkmal guter Ideen.

Mark Fehr ist Wirtschaftsredakteur der F.A.Z. Sein Buch „Geniestreiche aus Kassel“ ist im Verlag Frankfurter Allgemeine Buch erschienen. 176 Seiten, Preis: 20 Euro. ISBN 978-3-96251-211-8

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