Wirtschaft

Industrie und Wohlstand: Deutschland und Europa brauchen die schöpferische Disruption | ABC-Z

Reförmchen sind die falsche Antwort auf die historischen Herausforderungen von Europa und Deutschland. Es braucht die kontrollierte Sprengung bestehender Ketten und den Aufbau neuer Strukturen. Es ist an Deutschland, die Disruption loszutreten, um die Deindustrialisierung aufzuhalten.

Das Jahr ist erst wenige Wochen alt. Und doch avanciert ein Begriff schon jetzt zum (Un-)Wort des Jahres: Wachstumsschwäche. Nach der Corona-Pandemie und dem Angriffskrieg Russlands bedroht eine inzwischen galoppierende Deindustrialisierung die wirtschaftliche Stabilität Deutschlands und damit unseren Wohlstand und unsere Demokratie.

Eine Entwicklung, die auch unsere europäischen Nachbarn mit Sorge beobachten. Unter ihnen wächst die Angst, der „kranke Mann“ könne den Rest des Kontinents anstecken. Deutschland hustet – Europa bekommt die Grippe.

Noch nie war Europa so weit von disruptiver Veränderung entfernt wie derzeit. Doch noch nie hätte Europa eine solche Veränderung so sehr gebraucht wie heute. Zum einen, weil es ein schlagkräftiges Gegengewicht in der zunehmend bipolaren US-amerikanisch und chinesisch geprägten Weltordnung braucht. Zum anderen, weil Europa als Wirtschaftsraum und die Europäische Union als politische Institution langfristig nur mit radikalen Veränderungen überlebensfähig sein werden.

Europa braucht also eine Geostrategie, die diesen Namen verdient. Sie gibt auch wirtschaftlich die Richtung vor. Aus den geoökonomischen Leitplanken einer ganzheitlichen Geostrategie lässt sich wiederum eine kohärente Industriepolitik ableiten. Hier wird Disruption langsam konkret: Dass wir eine resiliente Industrie brauchen, um die Unabhängigkeit, den Wohlstand und die Demokratie in Europa zu schützen, ist unbestreitbar. Sie ist der Kitt des Wirtschaftsraums Europa. Doch eine kohärente Industriepolitik entlang der Wertschöpfungsketten wäre insbesondere für Deutschland ein Novum.

Industriepolitik galt lange als nicht mit der freien Marktwirtschaft vereinbares No-Go. Zu sehr schien sie ein planwirtschaftlicher Eingriff der Politik zu sein, zu sehr schien sie die Technologieoffenheit zu beschneiden und dem Wettbewerb zu schaden. Doch ein Nein zur Industriepolitik ist nur so lange ernsthaft vertretbar, wie globaler Konsens herrscht. Es gilt: alle oder keiner. Scheren die ersten Länder oder Bündnisse aus, werden die Mechanismen des freien Marktes ohnehin außer Kraft gesetzt – zugunsten derer, die Industriepolitik betreiben, und zu Ungunsten derer, die sich davor verschließen.

Der Markt allein regelt unter diesen Voraussetzungen eben nichts. Die Entscheidung, ob es Industriepolitik braucht oder nicht, ist Europa von Playern wie den USA oder China bereits abgenommen worden. Als industriepolitische Maßnahmen im weitesten Sinne können hierbei Subventionen, aber auch Sanktionen und Zölle gelten.

Die geoökonomische Zeitenwende als Konsequenz der geopolitischen Zeitenwende führte die Welt in eine Globalisierung 2.0. Die 30 Jahre Hyperglobalisierung sind damit vorbei. Protektionismus und Abschottung als Bestandteil industriepolitischer Maßnahmen brechen sich seitdem Bahn. Mechanismen liberalisierter Weltmärkte versagen deswegen.

Die neue europäische Entwicklungspolitik

Die Länder der Europäischen Union haben es bislang den Vereinigten Staaten überlassen, die westlichen Werte und Interessen in der Entwicklungspolitik zu vertreten. Das rächt sich nun. Die „Build Back Better World“-Initiative setzt die US-amerikanische Konnektivitätsstrategie mit dem Globalen Süden um. Initiiert von der Biden-Administration, steht sie unter Donald Trump infrage.

Es bleibt Chinas Projekt „Neue Seidenstraße“, das ursprünglich mit rund einer Billion Euro budgetiert war und entsprechend schlagkräftig seit mehr als zehn Jahren daherkommt. Kein Vergleich jedenfalls zur „Global Gateway“-Initiative, die Länder der Europäischen Union stärker mit Schwellen- und Entwicklungsländern vernetzen soll. Sie ist zu bürokratisch, zu kompliziert, zu unattraktiv für kleine und mittelgroße Unternehmen. Zudem ist sie erheblich unterfinanziert. Ein Tropfen auf dem heißen Stein.

Am gravierendsten aber ist der neokoloniale Geist, den das EU-Programm atmet. Der Globale Süden erhebt sich derzeit zu neuem Selbstbewusstsein. Die Länder der südlichen Hemisphäre nutzen den geoökonomischen Umbruch, um zu politischen und ökonomischen Playern auf der Weltbühne aufzusteigen.

Wir brauchen eine neue Perspektive auf ihre Entwicklung und vor allem: Partnerschaften auf Augenhöhe, um dieser neuen Realität Rechnung zu tragen. Hier handelt es sich also um eine notwendige Mindset-Veränderung, die Europa berücksichtigen muss, wenn es endlich eine Konnektivitätsstrategie definiert hat, die aus einer übergeordneten Geostrategie abgeleitet wurde.

Die neue europäische Struktur

Die Europäische Union krankt nicht mehr nur an ihrer Bürokratie, sondern an ihrer Vetokratie. Geprägt wurde das Kunstwort durch den Ökonomen Mike Moffatt. Zur Bürokratie kommt auf europäischer Ebene zusätzlich eine gut gemeinte, aber schlecht gemachte Partizipation aller erdenklichen Anspruchsgruppen in der Entscheidungsfindung.

Kurzum: Jeder darf mitreden – und im Zweifelsfall ein Veto einlegen. Das Einstimmigkeitsprinzip verunmöglicht die strategische Weiterentwicklung der EU. Es verhindert Veränderungsprozesse und damit die konstruktive Disruption. Die Einführung eines Mehrheitsstimmrechts würde die Institutionen der EU deutlich handlungsfähiger machen.

Zu einer strukturellen Disruption gehört aber auch die mutige Expansion. Europa darf sich nicht vom um sich greifenden Protektionismus, von Europaskepsis oder gar -feindlichkeit beirren lassen: Europa ist ein einzigartiges, wertvolles Friedensprojekt, das es nicht nur zu erhalten, sondern auszuweiten gilt. Wir brauchen eher mehr als weniger Europa.

Aber vorher müssen wir unsere Hausaufgaben machen, den strategischen Rahmen schaffen und disruptive Reformen umsetzen. Dann wird auch die längst fällige geografische Erweiterung durch die Aufnahme etwa der Westbalkanstaaten leichter und besser gelingen.

Die Vorreiterrolle Deutschlands

Begreifen wir das Deutschlands politischen Neuanfang nach der Ampel als Chance für konstruktive Disruption: Die galoppierende Deindustrialisierung erhöht den Druck auf tradierte Strukturen. Indem wir sie aufbrechen, können wir es schaffen, die großen Standortnachteile Deutschlands zu reduzieren, insbesondere die hohen Energiekosten, die Bürokratie, den Fachkräftemangel und die hohen Abgaben. Davon profitieren schließlich auch unsere europäischen Nachbarn, die sich nicht beim „kranken Mann“ anstecken.

Doch auch mit Blick auf unsere deutsche Außenwirtschaftspolitik gibt es Bedarf an schöpferischer Zerstörung. Deutschland tut gut daran, nicht länger werteorientiert, gar feministisch zu handeln, sondern interessengeleitet.

Maßgeblich muss sein, wie unser Gegenüber tickt. Im Umgang mit den USA und China müssen wir folglich einen anderen Ansatz wählen als im Umgang mit den Ländern Asiens, Afrikas und aus dem arabischen Raum, die nach wie vor an die regelbasierte Globalisierung glauben.

Ein Beispiel: Obwohl der russische Angriffskrieg auf die Ukraine das Image der Rüstungsindustrie gedreht hat, denken wir ökonomische und verteidigungspolitische Interessen noch immer nicht zusammen. Dabei liegt darin der Schlüssel, um die deutschen Handelsbeziehungen zu den USA zu gestalten. Signalisieren wir Herrn Trump, dass wir auf den viel kritisierten Leistungsbilanzüberschuss Deutschlands mit dem entsprechenden Ausbau unserer Investitionen in Sicherheit und Verteidigung reagieren.

Die Disruption – unsere letzte Chance?

Disruption bedeutet eine radikale Veränderung, die wie eine Schockwelle durch Politik, Wirtschaft und Gesellschaft geht. Genau darin liegt ihre Chance: im Momentum der schöpferischen Zerstörung. Europa muss es nutzen, um geopolitische und geoökonomische Bedeutung wiederzuerlangen. Es ist an Deutschland, die Disruption loszutreten, um die galoppierende Deindustrialisierung zu verlangsamen, aufzuhalten oder gar umzukehren.

Die bewusste und konstruktive Disruption bedeutet eine Chance für Europa und Deutschland. Es könnte die letzte sein, bevor uns der Rest der Welt das Heft des Handelns komplett aus der Hand nimmt.

Oliver Hermes ist Vorstandsvorsitzender und CEO der Wilo Gruppe und Mitglied des Kuratoriums der Stiftung Familienunternehmen.

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