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Indiens Süden: Kerala – Land der Kokospalmen | ABC-Z

Lautlos gleitet das Hausboot an Reisfeldern, Palm- und Mangrovenwäldern sowie malerischen Dörfern vorbei, das geheimnisvoll schimmernde Wasser ist an den Ufern von üppigem Grün gesäumt. Am liebsten würde man sich tagelang in den exotischen Backwaters von Kerala verlieren und der Hektik dieser Welt entfliehen. Dafür eignet sich dieses Laby­rinth aus 48 Flüssen, 29 Seen und Lagunen ideal.

Die Backwaters im Hinterland der Malabarküste sind auch ein Vogelparadies und umfassen mehr als 1500 Kilometer Wasserwege. Hierzu zählen auch künstliche Kanäle, die von einheimischen Herrschern und später auch von den Briten angelegt wurden. Von jeher bewegen sich die Menschen hier mit dem Boot fort. Die Hausboote, die sogenannten „Kettuvalams“, waren früher Lastkähne und wurden zum Transport von Gewürzen, Reis und vor allem Kokosnüssen verwendet, nicht umsonst bedeutet Kerala in der Landessprache Mala­yalam „Land der Kokospalmen“, abgeleitet von „kera“ für Kokospalme und „alam“ für Land. Sechs Milliarden Kokosnüsse werden hier jedes Jahr geerntet.

Mit ihren gewölbten Stroh- oder Palmblattdächern versprühen die einstigen Kutter den Charme längst vergangener Zeiten, sind aber vielfach für Touristen umgebaut und mit allen Annehmlichkeiten wie etwa klimatisierten Kabinen und Badezimmern ausgestattet.

„Die Backwaters sind das Venedig des Ostens“, sagt Rema Babu, Mutter dreier Töchter, stolz. Sie lebt im Hafenstädtchen Aleppey, einem der bekanntesten Ausgangspunkte für eine Tour. Die Inderin ist erfolgreiche Unternehmerin, ihre Firma Minar de Lake betreibt gleich vier Hausboote. Rema verkörpert das moderne Kerala, wo Frauen einen deutlich besseren Status haben als im Rest von Indien. Die Alphabetisierungsrate ist mit 93 Prozent auch die höchste des Landes, und das Gesundheitswesen ist gut ausgebaut. Die kommunistische Regionalregierung – übrigens die einzige in ganz Indien – achtet darauf, dass Frauen in allen Bereichen des öffentlichen Lebens eingebunden sind. Selbst das Pro­blem des Mülls, den man überall auf Indiens Straßen präsent ist, scheint hier unter Kontrolle, obwohl Kerala mit seinen 36 Millionen Einwohnern einer der am dichtesten besiedelten Bundesstaaten ist.

Kerala profitiert von seiner privilegierten geografischen Lage, grüne Hügelketten mit ihren Gewürz- und Teeplantagen verlaufen parallel zur Mala­barküste am Arabischen Meer sowie der hoch aufragenden Bergkette der Westghats, der natürlichen Grenze zum benachbarten Tamil Nadu. Hier regnet sich der Monsun auch als Erstes ab und hier gedeiht sogar roter Reis, unterhalb vom Meeresspiegel, was sonst kaum irgendwo auf der Welt möglich ist.

„Wir haben eine extrem fruchtbare Erde und bauen seit 3500 Jahren Gewürze an, bis heute verwenden wir sie auch als Heilmittel gegen Krankheiten“, erläutert Naseeb Fakrudheen, dessen Familie seit Generationen einen Gewürzgarten im Peryar-Hochland betreibt und es zu beachtlichem Wohlstand gebracht hat. Hier gedeihen insbesondere Pfeffer und Kardamon, die als „König und Königin“ aller Gewürze gelten. Allzu weit sollte man sich bei Dämmerung nicht in den Garten hineinwagen, denn es gäbe Schlangen, warnt Naseeb. Die Familie baut auch Chili an, eine Pflanze, die die Portugiesen, die im 15. Jahrhundert hierherkamen, aus Mittelamerika mitbrachten.

Jedes noch so kleine Fleckchen Erde ist kostbar – Kerala ist an seiner schmalsten Stelle nur 35 Kilometer breit – und wird genutzt. Selbst entlang der Stämme der Silber-Eichenbäume, die auf den einst von den britischen Kolonialherren angelegten Teeplantagen Schatten spenden, ranken sich Pfefferpflanzen.

In Tamil Nadu befinden sich auch die wohl grandiosesten Tempelanlagen von Südindien, und natürlich wandern hier überall die verehrten Kühe die Straßen auf und ab. Die Tiere sind allerdings extrem mager, weil sie nicht genügend zum Fressen finden. Die allgegenwärtige Armut dieser Region steht in krassem Gegensatz zu ihrem kulturellen Reichtum. Wer hinduistische Mystik hautnah erleben will, sollte sich den Tempel der dreibrüstigen Göttin Minakshi in der im Landesinneren gelegenen Stadt Madurai, einer wichtigen Handelsstadt in der Antike, nicht entgehen lassen. Minakshi, die fischäugige Schönheit, ist niemand anders als die berühmte Parvati, die Ehefrau von Shiva, die viele Formen annehmen kann. Schon von Weitem grüßen seine riesigen Turmtore, die sogenannte Gopurams, reich verziert mit Skulpturen von Tieren, Göttern und Dämonen. Ganze Hundertschaften von Pilgern aus ganz Indien kommen tagtäglich hierher und stehen vor dem Hauptheiligtum, dem Minak­shi-Schrein, geduldig Schlange. Und hier kleiden sich die Frauen in besonders farbenfrohen Saris, wobei die Farbe Orange dominiert. Denn die Hindus glauben daran, dass die Welt aus dem Feuer entstand, daher lieben sie Orange, eine Farbe, die sie nach dem Tod zurückgeben müssen. „Daher bringen wir Hindus unsere Toten in die Stadt Varanasi am Ganges, um sie dort zu verbrennen“, erläutert Sharwan.

Ein weiteres Highlight ist der riesige dem Gott Shiva gewidmete Brihadeswhara-Tempelkomplex im 185 Kilometer nördlich von Madurai gelegenen Thanjavur, der zum ­Unesco-Weltkulturerbe zählt und für viele die grandioseste Tempelanlage von ganz Indien ist. In einem Pavillon befindet sich der majestätische, sechs Meter lange Stier Nandi. Ehrfurchtsvoll ziehen die Gläubigen Kreise um das Reittier Shivas, der wiederum den Granit-Tempel seines Herrn und Gebieters im Auge hat. Keine der drei Weltreligionen hat so viele Gottheiten wie der Hinduismus, mehr als 300 Millionen sollen es sein, was schier unglaublich ist. Sogar eine Göttin für Nahrungsmittel gibt es, sie heiβt Annapurneshwari. Sharwan lächelt: „Willkommen in der Welt des Hinduismus, sie ist komplex, aber wer tief eintaucht, kann sich ihrer Faszination nicht entziehen.“

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