Im Schatten Adenauers: Ludwig Erhards Erinnerungen an seine Kanzlerjahre entdeckt – Politik | ABC-Z
Glaubt man den kürzlich erschienenen Erinnerungen Wolfgang Schäubles, hatte die Bundesrepublik Deutschland bislang drei große Kanzler: Konrad Adenauer aufgrund seiner Politik der Westbindung, Willy Brandt durch seine Ostpolitik, sowie Helmut Kohl, der beherzt zugriff, als sich das Zeitfenster zur Verwirklichung der deutschen Einheit öffnete. Angela Merkel rechnete Schäuble trotz ihrer 16-jährigen Amtszeit nicht zu den herausragenden Regierungschefs. Dasselbe gilt für Ludwig Erhard, den Erfinder der sozialen Marktwirtschaft und langjährigen Wirtschaftsminister im Kabinett Adenauer. Er hatte das Kanzleramt allerdings auch nur drei Jahre inne, von Oktober 1963 bis November 1966.
Dass nun sechs Jahrzehnte später Erhards Erinnerungen an jene Kanzlerjahre erscheinen, ist eher eine Überraschung als die vom Verlagsmarketing in Aussicht gestellte „Sensation“. Verfasst wurde der Text nämlich bereits 1975/76, wie man den Anmerkungen des Bonner Historikers Ulrich Schlie entnehmen kann, der das Manuskript im Zuge von Recherchearbeiten entdeckt und herausgegeben hat. Allerdings nicht von Erhard selbst geschrieben, der lediglich Korrektur las und autorisierte (was bei Politiker-Erinnerungen keine Seltenheit ist), sondern vielmehr von seinem früheren Pressereferenten Hans „Johnny“ Klein. Das ist deshalb erwähnenswert, da der Journalist Klein zum Zeitpunkt der Abfassung gerade selbst im Begriff war, für die CSU in den Deutschen Bundestag einzuziehen, und im direkten Umfeld des CSU-Vorsitzenden (und ab 1978 Bayerischen Ministerpräsidenten) Franz Josef Strauß agierte. Was erklären dürfte, warum Strauß in den Erhard-Erinnerungen sehr viel nachsichtiger behandelt wird als die meisten anderen Granden der CDU/CSU. Unter Helmut Kohl brachte es Klein später zum Entwicklungshilfeminister und, nach der Wiedervereinigung, Vizepräsidenten des Bundestages. Kurzum, bei Erhards Ghostwriter dürften politische Eigeninteressen im Spiel gewesen sein, als er die Erinnerungen seines früheren Chefs niederschrieb.
Erhard schrieb nicht selbst, sondern autorisierte nur
Hinzu kommt, dass es sich bei den lediglich gut 100 Seiten nicht um Memoiren im herkömmlichen Sinne handelt, sondern ausdrücklich um eine nachträgliche Rechtfertigung der drei Kanzlerjahre. Auftraggeber war die 1967 gegründete Ludwig-Erhard-Stiftung. Warum der Text nicht unmittelbar nach seiner Fertigstellung erschienen ist, lässt sich nicht mehr im Detail rekonstruieren. Schlie mutmaßt, dass das umfassende publizistische Echo anlässlich Erhards Tod 1977 damit zu tun haben könnte, sowie die ursprüngliche Absicht, den Kanzlerjahren noch weitere Lebensabschnitte für die Buchpublikation hinzuzufügen.
Aus heutiger Sicht ist der Text, der als Typoskript mit vereinzelten handschriftlichen Korrekturen abgedruckt ist, aus dreierlei Perspektiven lesenswert: als zeithistorische Quelle, wobei sich hier der Erkenntniswert, nicht zuletzt auch aufgrund seiner verspäteten Entstehungsgeschichte in Grenzen hält; als die nachträgliche Legitimations- und Einordnungsschrift eines Gekränkten, der zehn Jahre nach seiner Amtszeit und im Angesicht der dynamischen politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen der späten 1960er- und 1970er-Jahre den Versuch einer historischen Verortung in eigener Sache unternimmt; sowie nicht zuletzt als ein Dokument, welches vor Augen führt, dass etliche Themen, die uns im heutigen politischen Diskurs beschäftigen, über beachtliche Kontinuitätslinien in der deutschen Geschichte verfügen und bereits vor mehr als einem halben Jahrhundert kontrovers und mitunter auch erbittert verhandelt wurden.
Spannungen in der Unionsfraktion wegen des politischen Kurses
Historisch betrachtet war die Staffelübergabe von Adenauer an Erhard eine Bewährungsprobe für die junge Demokratie. Dies wurde auch im Ausland so verstanden und entsprechend kommentiert. Trotz der Unterschiedlichkeit ihrer Naturelle setzte Erhard auf politische Kontinuität, wissend, dass Adenauer ihn als Nachfolger hatte verhindern wollen. Das hier bereits angelegte Spannungspotenzial innerhalb der CDU sowie der CDU/CSU-Fraktion bewertet Erhard in der Rückschau als den größten Hemmschuh seiner kurzen Kanzlerschaft, sowie als maßgeblich ursächlich für sein frühes Scheitern. Allen voran in der Außen- und Deutschlandpolitik sowie mit Blick auf die deutsch-französischen und deutsch-amerikanischen Beziehungen gelang es Erhard nicht, klare Positionen zu beziehen und Partei wie auch Fraktion hinter sich zu versammeln. Er selbst führt dies vor allem darauf zurück, dass ihm das Adenauer eigene autoritäre Befehls- und Gehorsamsprinzip fremd gewesen sei, und er von jeher ein distanziertes Verhältnis zur Macht gehabt habe, da diese, einmal angewandt, stets auf „absolute Macht“ ziele. Dies entspricht den historischen Tatsachen insoweit, als Erhard von seinem Umfeld im März 1966 regelrecht dazu überredet werden musste, auch beim CDU-Vorsitz nach der Nachfolge Adenauers zu greifen; zu einem Zeitpunkt allerdings, als die Kritik an seiner Amtsführung in der eigenen Fraktion sowie bei der CSU in Bayern bereits nicht mehr einzufangen war.
Als größte Herausforderung wertete Erhard den Reform- und Generationenstau, den er „nach anderthalb Jahrzehnten autoritärer Führung durch Adenauer“ vorfand. Und genau hier, auf dem Gebiet der Gesellschaftspolitik, wird die tief sitzende Bitterkeit und Kränkung Erhards augenscheinlich. Sowie sein Bedürfnis, in der Rückschau und aus dem Erfahrungsraum der 1970er-Jahre heraus, die Modernität seiner damaligen Politik noch einmal zu erläutern. Eine Politik, die letztlich am Beharrungsvermögen einer tradierten Union sowie an einem Koalitionspartner FDP, der sich weniger durch Liberalität als durch tagespolitischen Opportunismus auszeichnete, gescheitert sei.
Die Idee der „Formierten Gesellschaft“ zündete nicht
Ausführlich verweist Erhard auf sein Konzept der „Formierten Gesellschaft“, mit dem ihm die gesellschaftspolitische Weiterentwicklung des Erfolgsmodells der sozialen Marktwirtschaft vorschwebte. Soziale Gegensätze sollten dabei überwunden und eine „Gesellschaft des dynamischen Gleichgewichts“ geschaffen werden, durch grundlegende Reformen, ähnlich jenen, die Präsident John F. Kennedy 1960 unter der Überschrift der „New Frontier“ für die amerikanische Gesellschaft auf den Weg gebracht hatte. Leider habe seine eigene Partei dies nicht verstanden und die Maßnahmen blockiert.
Wäre es anders gekommen, davon zeigt sich Erhard überzeugt, hätten seine Ideen des gesellschaftlichen Ausgleichs nicht nur der klassenkämpferischen Rhetorik der SPD den Wind aus den Segeln genommen, sondern womöglich gar eine gesamteuropäische Strahlkraft entwickelt, von der die Attraktivität und Anziehungskraft des freien Westens in Gänze profitiert hätte. Kurz gesagt, hätte Erhard sich mit seinen Vorstellungen durchgesetzt, hätte sowohl die Geschichte des Kalten Krieges als auch der 68er-Bewegung womöglich einen anderen Verlauf genommen. Wie wichtig Erhard sein Projekt einer „Formierten Gesellschaft“ war, kann man auch daran ablesen, dass keinem anderen Einzelthema in den Erinnerungen mehr Platz eingeräumt wird.
Erhellend ist die Lektüre vor allem in jenen Passagen, die Verbindungen zu heutigen politischen Debatten zulassen. Dabei wird offensichtlich, dass die derzeitige vermeintliche Polarisierung in der politischen Auseinandersetzung weder neu noch gar einzigartig ist. Verglichen mit der Schärfe der politischen und auch persönlichen Anfeindungen, mit denen sich Union und SPD in den Nachkriegsjahren gegenseitig überzogen, erscheinen aktuelle Kontroversen etwa in der Klima- oder Sozialpolitik regelrecht milde. Politische Analogien mit dem Nationalsozialismus und Kommunismus, damals gang und gäbe, sind heute unter den demokratischen Parteien weitgehend tabu.
Auch die Nato-Debatten von heute erinnern an damals
Geprägt waren die Kanzlerjahre Erhards von globalen Krisen und der wachsenden Sorge militärischer Eskalation. Der Vietnamkrieg und die Erfahrungen der Kuba-Krise 1962 beförderten die Debatte um die deutsche und europäische Verteidigungsfähigkeit. Das Angebot des französischen Präsidenten Charles de Gaulle, Deutschland am französischen nuklearen Schutzschirm zu beteiligen und so womöglich die Grundlage für eine künftige europäische nukleare Abschreckung zu schaffen, lehnte Erhard nicht nur aus Kostengründen ab, zumal ein Mitspracherecht nicht zur Debatte stand, sondern auch mit dem Hinweis darauf, dass damit der „lebensgefährliche Preis größerer Distanz zu den USA“ verbunden wäre. Erhard war Transatlantiker, der die deutsche Sicherheit in den Händen der Nato und der USA verortete, anstelle auf den Aufbau souveräner europäischer militärischer Fähigkeiten unter Führung Frankreichs zu setzen, wie das de Gaulle vorschwebte. Eine Debatte, die im Juli 1966 im zeitweisen Austritt Frankreichs aus der Nato kulminierte, sich fortschreiben lässt bis zur Diagnose Emmanuel Macrons 2019, die Nato sei „hirntot“, und letztlich bis heute das divergierende Sicherheitsverständnis von Deutschland und Frankreich kennzeichnet.
Erhards vermutlich größtes Verdienst als Kanzler war 1965 die Aufnahme diplomatischer Beziehungen mit Israel. Das war ein historischer Schritt, der außenpolitisch die Abkehr von der Nachkriegsordnung und den Eintritt in eine neue Ära markierte. Innenpolitisch vermochte er als Regierungschef Vergleichbares nicht zu bewerkstelligen. Gleichwohl wäre es unfair, wie Schlie in seinem Nachwort zu Recht betont, den „Vater der sozialen Marktwirtschaft“ auf seine drei Kanzlerjahre zu reduzieren. In dieser Funktion blieb er im Schatten Adenauers. So gerne er sich in dieser Rolle gesehen hätte: Den gesellschaftlichen und politischen Aufbruch der kommenden Jahre gestalteten andere.
Florian Keisinger ist Historiker.