Igor Guberman ist der populärste russischsprachige Autor | ABC-Z

Der in seiner Heimat und weltweit bekannteste (heißt: meistpublizierte und meistzitierte) Autor russischer Sprache ist im internationalen Literaturbetrieb eine weithin unbekannte Größe. Sein Name? Igor Guberman. Der heute Neunundachtzigjährige gilt bei seiner russischsprachigen Leserschaft wie bei der Kritik als „lebender Klassiker“, und er wird diesem Ruf mit seinem ebenso umfangreichen wie vielfältigen Werk – Sachbücher, Tagebücher, Erzählungen, Gedichte – auch gerecht. Vor alllem als ingeniöser, dabei ungemein produktiver Aphoristiker genießt er Popularität.
Fernweh im Heimatland ist eine Qual,
Ich will den Grund des Wehs erfahren:
Bald ist’s der Duft, der herweht aus der Ferne,
Bald die Notwendigkeit des Sockenwechsels!
Geboren wurde Guberman 1936, auf dem Höhepunkt der gewalthaften stalinistischen Säuberungen, in Charkiw. Dort absolvierte er Grund- und Mittelschule, ehe er zum Studium nach Moskau übersiedelte; sein Diplom als Ingenieur für Verkehrs- und Transportwesen erhielt er 1958 im gemilderten Klima des politischen „Tauwetters“. In den Sechziger- und Siebzigerjahren profilierte er sich als Sachbuchautor (mit Werken über Gehirnforschung, Neurophysiologie und biologische Kybernetik) und schrieb nebenher als Ghostwriter Romane für linientreue Schriftstellerkollegen. Einem breiten Publikum wurde er in der Sowjetunion durch zahlreiche dokumentarische Fernseh- und Kinofilme bekannt.
Aufs Geratewohl zu leben ist gefährlich,
Jeden Weg zu gehen, ist riskant,
Klar hab ich jedenfalls erkannt: Lebend
Komm ich aus dem Leben nicht heraus.
Freiheitlicher „Untergrund“-Dichter mit wechselnden Pseudonymen
Gleichzeitig trat er mit dem dissidenten Kreis um Aleksandr Ginsburg und die illegale Zeitschrift „Sintaksis“ in Verbindung und befreundete sich mit gleichgesinnten Literaten, Künstlern, Philosophen. Seine wissenschaftlichen Ambitionen und Erfolge gab er zugunsten literarischer Projekte Schritt für Schritt auf, um sich unter wechselnden Pseudonymen als freiheitlicher „Untergrund“-Dichter in Stellung zu bringen. Als solcher wurde er 1979 verhaftet und zu fünf Jahren Arbeitslager verurteilt. Im sibirischen Gulag begann Guberman, ein Tagebuch zu führen, das zur Grundlage seines verspäteten literarischen Erstlings wurde („Spaziergänge nächst der Baracke“ erschien 1988), aber auch für seine Lyrik reichlich Rohstoff bereithielt.
Und richtet davon immer noch mehr her:
Hier suchen sich die Schafe selbst die Wölfe aus,
Von denen sie gehütet werden wollen.
Als Guberman 1984 aus der sibirischen Lagerhaft entlassen wurde, konnte er in Moskau wegen behördlicher Schikanen weder eine eigene Wohnung noch eine berufliche Anstellung finden, und die Publikation seiner dichterischen Texte wurde ihm verwehrt. 1987 entschloss er sich deshalb zur Emigration, seit 1988 lebt er in Jerusalem. Häufig ist er danach in die Heimat zurückgekehrt, um dort mit Rezitationen und Vorlesungen Präsenz zu zeigen, bis er angesichts des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine auf solche Freundschaftsbesuche verzichtete.
Russland dekoriert seine Fassade,
Damit der hinterm First und dem Portal
Unaufhaltsam schleichende Verfall
Sich ausnimmt wie ein Abriss nach Plan.
In Russland weiterhin Höchstauflagen
Wenn Igor Guberman heute eine globale literarische Reichweite hat, so deshalb, weil er als Exilant nicht nur seine ehemaligen Landsleute frei ansprechen kann, sondern auch bis nach Kanada und Japan mit der russischen Diaspora vernetzt ist – auf Youtube sind seine Lesungen und Interviews zu Dutzenden abzurufen, und bis vor Kurzem war er regelmäßig auf ausgedehnten Vortragsreisen vielerorts im Ausland unterwegs. Ein singulärer Fall ist Guberman auch insofern, als er bis heute in der Russländischen Föderation ungehindert publizieren kann und seine Bücher in zahlreichen Neu- und Nachauflagen weiterhin gedruckt werden. Seit 1996 sind dort bereits mehrere Werkeditionen erschienen, Dutzende von Einzelausgaben sind im Buchhandel greifbar, vor Jahresfrist kam eine luxuriös ausgestattete zweibändige Geschenkausgabe seiner Aphorismen hinzu. Dass die Texte des ehemaligen Regimekritikers und Lagerhäftlings in Russland weiterhin in Höchstauflagen erscheinen können, bezeugt seine bravouröse Fähigkeit, politisch brisante Themen und Probleme gewissermaßen „durch die Blume“ anzusprechen.
Die Herrschaft, das Gesinde – alle rauben,
Der Dieb macht gern die Diebe schlecht;
An Russland kann man kühn wohl glauben,
Doch gefährlich ist es, Russland zu vertrauen.
Zu Gubermans Beliebtheit und Erfolg hat die zutiefst humane, durchweg konsensfähige Botschaft seiner Texte sicherlich ebenso beigetragen wie deren formale Eigenart und Exzellenz. Denn als einziger unter so vielen anderen Autoren hat Guberman für seine Aphorismen eine eigene, ganz und gar unverwechselbare Darbietungsform erarbeitet: eine vierzeilige Strophe aus vierhebigen, kreuzweise gereimten Versen, von ihm als „Gariki“ bezeichnet, hergeleitet von „Garik“, seinem Rufnamen als Kind. Die aphoristische Rede ist hier also stets als poetische Rede ausgewiesen und wird als solche mit höchstem Anspruch und auch mit höchster Konsequenz praktiziert.
Einst wussten die wilden Horden,
Unbeleckt von jeglicher Humanität,
Noch nicht, wer ein Jude ist,
Und also fraßen sie schlicht alle Fremden.
Doch gerade diese hohe Qualität dürfte mit ein Grund dafür sein, dass Igor Guberman bisher keine internationale Resonanz gefunden hat, denn naturgemäß ist sprachliche Artistik übersetzerisch nie adäquat einzuholen. Dazu kommt auf der Aussageebene das brillante Spiel mit vielerlei Allusionen auf die russische Lebenswelt, Geschichte oder Literatur – lauter Bezugspunkte also, die für das Verständnis der Aphorismen unerlässlich, dem nicht russischen Publikum aber unbekannt sind. Die hier beigefügten Rohübersetzungen mögen zumindest einen ersten oberflächlichen Lektüreeindruck vermitteln, bleiben jedoch hinter der formalen Meisterschaft des Autors weit zurück.
Für immer bin ich nun [in Israel] verwurzelt,
Ich hab mir diesen Traum im Wachzustand erfüllt
Und lebe bestens hier vor Ort,
Doch lad ich keinen ein, hierher zu kommen.