“Hundertdreizehn”: Außergewöhnliche Kollateralschäden – DWDL.de | ABC-Z

Der Schmetterlingseffekt fasst das chaostheoretische Durcheinander dynamischer, also unvorhersehbarer Situationen in ein denkbar schönes Wort. Wann immer die Zivilisation auf Konfusion trifft, sind seine Folgen allerdings schnell hässlicher als farbenfrohe Falter. Verkehrsunfälle zum Beispiel haben zwar oft einfache Ursachen. Regelverstöße, Unaufmerksamkeit, Raserei, defekte Bremsen, mitunter alles kombiniert. Die Konsequenzen sind jedoch sind unabsehbar. Bis auf eine Zahl vielleicht: 113.
So viele Menschen sind nach Daten des Bundesverkehrsministeriums mittelbar betroffen, falls Fahrzeugkollisionen tödlich enden. Klingt nach Berechenbarkeit, ist aber nur ein statistischer Wert – beschreibt also nicht mal annähernd, wie viele Menschen eine Massenkarambolage in Mitleidenschaft zieht. Der Titel des ARD-Sechsteilers „Hundertdreizehn“ ist daher ein wenig missverständlich. Denn als ein Reisebus zu Beginn der ersten Folge in den Gegenverkehr rauscht und zahlreiche Autos rammt, ist die Zahl der Betroffenen noch unklarer als der Grund dieses verheerenden Unfalls. Sofern es denn einer war.
Genau das soll Anna Goldmundt (Lia von Blarer), beim BKA für Selbstmordanschläge und Amokläufe zuständig, in einer SOKO der Kripobeamten Jan Auschra (Robert Stadlober) und Hänno Gudjons (David Hugo Schmitz) klären. Weil er, statt zu bremsen, Vollgas gegeben hat, gerät zunächst der Geisterfahrer unter Vorsatzverdacht. Entlang dieser These begleitet Regisseur Rick Ostermann sein Polizeitrio sechsmal 45 atemlose Minuten durchs Dickicht stetig wachsender Mutmaßungen, Beweise, Indizien, Zweifel. Nach Arndt Stüwes Drehbüchern baut er die Ursachenforschung dabei als Anthology-Serie im Who-Dunnit-Stil auf. Eigentlich eine ganz gute Wahl. Wenngleich nicht die beste.
Schließlich suggeriert sein Titel, einen Teil der, wenn nicht gar alle „Hundertdreizehn“ Leidtragenden durch die polizeiliche, persönliche, psychologische, soziale Unglücksaufarbeitung zu führen. Eine günstige Gelegenheit, der nüchternen Statistik fiktionales, aber wahrhaftiges Leben einzuhauchen. Ostermann und Stüwe entscheiden sich hingegen dafür, die denkbare Alltagsbetrachtung gewöhnlicher Kollateralschäden dramaturgisch ebenso aufzuplustern wie den Crash selbst.
Personal mit Bodenhaftung
Anstelle betroffener Durchschnittsmenschen stellt uns die Serie pro Folge folglich jeweils eine ziemlich verhaltensauffällige Figur nebst Umfeld vor. Zum Auftakt etwa den Busfahrer Theo (Felix Kramer), der eigentlich ein ganz normales Leben mit ganz normalem Job und ganz normaler Familie führt – hätte ihm Arndt Stüwe nicht autobiografische Ausschweifungen weit außerhalb jeder bürgerlichen Fassade in die Vita geschrieben. Überhaupt sind alle Protagonisten von der fliehenden Braut mit Gedächtnisschwund und dem Koks-Kurier mit biopolarer Zwangsstörung bis zur Architektin mit dunklem Geheimnis und einem Augenzeugen mit Alzheimer irgendwie außergewöhnlich.
Selbst dem Feuerwehrmann Jesper (Max von der Groeben) dichtet das Erste im dritten Teil zwei kapriziöse Backstorys an, als wäre Brandbekämpfung ein Shakespeare-Drama. Dass die fabelhafte Lia von Blarer ihren BKA-Cop als autistische Pedantin mit privatem Bezug zu einem der toten interpretieren muss, passt demnach perfekt ins Wimmelbild extravaganter Geschichten und Charaktere. Doch je mehr der erzählerische Fanatismus die Serie überfrachtet, desto besser sorgt das wohlsortierte Personal von Caster Siegfried Wagner für Bodenhaftung.
© WDR/Windlight Pictures/Satel Film/Frank Dicks
Feuerwehrmann Jesper Lohbrink (Max von der Groeben) versucht, zwei Kinder aus dem brennenden Bus zu retten.
Anna Schudts Busfahrer-Witwe Riccarda, Cornelius Obonyas Fuhrunternehmer Hajo, Antonia Morettis Überlebende Sofia, ach – eigentlich alle Darstellerinnen und Darsteller erden ihre Rollen mit einem Talent zum Downsizing überlebensgroßer Filmwirklichkeiten im Dienst der statistischen Nüchternheit. Ein Talent, das auch der Nachwuchs von Kinder-Caster Patrick Dreikauss kennzeichnet. Allen voran Eva Hirschburger und Allegra Tinnefeld. Wie sie zwei Halbschwestern in Theos merkwürdiger Patchworkfamilie durch die verstiegene Familienaufstellung navigieren: das allein wäre wie fast jeder Erzählstrang eines eigenen Sechsteilers wert gewesen.
Doch so hervorragend „Hundertdreizehn“ als thematisch verwobene Anthologie-Serie funktioniert: Das ARD-Versprechen, die nackte Zahl im Serientitel angemessen mit Leben zu füllen, bleibt unerfüllt. Kein Wunder vielleicht bei einem Verkehrsunfall, dessen unmittelbare Zahl an Todesopfern die der mittelbar Betroffenen auf mindestens 3000 summiert. Weil Rick Ostermann sein Format wie zuvor bereits die Weltkriegsarie „Das Boot“ obendrein in nahezu jeder Seriensekunde mit manipulativer Musik kandiert, misslingt ihm jetzt, was deutsche Fiktion so oft am Meisterwerk vorbeischrammen lässt: Understatement.
Schade eigentlich. Denn wie sich die Schleier des verwirrenden Tathergangs nach und nach lüften, wie sich Kreise schließen und Möglichkeitskorridore öffnen – das ist gut verfasst, gut erzählt, gut gedreht und gut gespielt. Nur: der ganz gewöhnliche Alltag ganz gewöhnlicher Leute in außergewöhnlicher Lage erscheint auch den kreativ Verantwortlichen von „Hundertdreizehn“ als zu ereignisarm für die Aufmerksamkeitsspanne unserer zappeligen Zeit. Schlimmer noch: vermutlich haben sie sogar recht. Die Abrufzahl wird zeigen, wie sehr.
“Hundertdreizehn”, ab sofort in der ARD-Mediathek sowie am Dienstag und Mittwoch um 20:15 Uhr im Ersten