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Houtman-Abrolhos-Archipel in Australien: Die vergessenen Inseln | ABC-Z

Der Wicht mit dem Welpenblick will nicht weichen. Immer wieder nähert sich der junge Seelöwe neugierig den Schnorchlern. Mal gleitet er gemächlich bis auf weniger als einen Meter an sie heran, dann zieht er sich übermütig wieder zurück, schlägt verspielt Saltos und dreht seine Pirouetten über dem Riff. Offensichtlich genießt die Robbe die Begeisterung des ungelenk im Wasser strampelnden Menschenvolks. Besonders Karmony Elouise hat sie als ihre Spielkameradin erkoren und stupst die junge Australierin einmal sogar mit der Schnauze an die Taucherbrille.

Die 21-Jährige erschrickt das ungestüme Verhalten des Seelöwen nicht. Ganz im Gegenteil – sie freut sich über die Avancen des Kleinen. „Dass sie so neugierig sind, erleben wir oft“, sagt die Tauchlehrerin, nachdem sie mit ihren Flossen in der Hand auf das kleine Koralleneiland Little Sandy gewatet ist. „Nur einen Kuss habe ich bisher noch nicht bekommen.“ Elouise begleitet Gruppen auf dem kleinen Expeditionsschiff Eco Abrolhos zu einigen der entlegensten Inseln der Welt. Der Houtman-Abrolhos-Archipel liegt weltabgeschieden vor der Küste Westaustraliens. Die Eco Abrolhos ist das einzige Schiff, das regelmäßig Touren auf eine Auswahl der mehr als 120 Inselchen im Indischen Ozean anbietet. Selbst viele Australier haben noch nie von dem Archipel gehört. Dabei gibt es hier jede Menge zu entdecken und das Schnorcheln mit Seelöwen ist nur eines von vielen Highlights für Besucher.

2019 wurden die Inseln zu einem der jüngsten Nationalparks Australiens erklärt. Derzeit spricht jedoch wenig dafür, dass das Schutzgebiet in naher Zukunft zu einem Touristenmagneten wie Australiens beliebte Inselziele Rottnest, Fraser Island oder den Whitsundays wird. Auch für Einheimische ist die Anreise lang und teuer. Noch immer kommt man fast ausschließlich per Flug aus Geraldton auf die Inseln. Das Städtchen liegt mindestens vier Autostunden nördlich von Perth, der einzigen Großstadt Westaustraliens. Hotels oder Gästehäuser gibt es hier nicht. Einzig mit dem Schiff oder bei einem Tagesausflug mit dem Kleinflugzeug kann der Archipel heute von Touristen besucht werden. Bis auf einige Langustenfischer wird man wohl auch in Zukunft kaum einem Menschen beim Inselhopping begegnen. Diejenigen, die es dennoch hierher verschlägt, dürfen sich noch heute ein wenig wie Pioniere fühlen.

„Sich einen Strand mit Seelöwen zu teilen, von Vogelschwärmen umkreist über eine Insel zu wandern oder von Fischen umgeben zu einem Wrack zu tauchen – das alles macht diesen Ort so besonders“, sagt Elouise, „vor allem aber das Privileg, das alles fast für sich allein zu haben.“

Bisweilen wurden die Inseln auch schon das „Galapagos Australiens“ genannt. Zwar fehlen hier im Gegensatz zu dem berühmten Archipel im Pazifik vor Ecuador die charismatischen Inselbewohner wie Riesenschildkröten, Landleguane und Pinguine. Stattdessen kann man bei Anlandungen auf einigen der Inselchen jedoch ebenfalls seltene Reptilien wie die Kleine Bartagame, den Dornschwanzskink und den harmlosen Rautenpython beobachten. Touristenlieblinge sind vor allem die niedlichen, hier nur wenig scheuen Tammarwallabys, die als eine der kleinsten Känguruarten der Welt gelten. Spektakulär sind in jedem Fall die riesigen Seevogelkolonien. Insbesondere in der Brutsaison von September bis Dezember bevölkern Hunderttausende von Sturmtauchern, Möwen, Seeschwalben und Elsterscharben den Archipel. In den Wintermonaten von Juni bis Oktober ziehen Buckelwale an den Inseln vorbei. Für Schnorchler und Taucher besteht fast ganzjährig die Chance, Seelöwen und bisweilen auch Delfine zu beobachten. Indessen lohnt sich ein Unterwasserausflug auch ohne eine Begegnung mit den Meeressäugern. Die vielerorts noch intakten Riffe beeindrucken mit ihren grellfarbigen Fischschwärmen sowie beachtlichen Hirn-, Pilz- und Geweihkorallen.

„Die Abrolhos sind vor allem für Leute, die einfach das Meer lieben und denen Natur für einen Urlaub genügt“, sagt Jay Cox. Gerade ist der 63-Jährige mit einer Gruppe Touristen auf einem kleinen Begleitboot von der Eco Abrolhos aufgebrochen, um auf dem offenen Meer zu fischen. Seine Gäste sind allesamt Australier. Die außergewöhnlichen Fisch­gründe, für die der Houtman-Abrolhos-Archipel unter Hochseeanglern bekannt ist, hat sie aus Perth, von der Ostküste und sogar aus Tasmanien hierher gelockt. Kaum haben sie ihre Angeln ausgeworfen, haben bereits die ersten Fische angebissen. Stattliche Meerbrassen, Perlbarsche und Zahnlippfische gehören heute zu ihrer Beute. Einige davon schnappen sich jedoch Riffhaie vom Haken. Mehrere der Raubfische patrouillieren bereits um die Angelschnüre, als Cox zum Aufbruch drängt. Auf dem Rückweg sammelt der Fischer eine Reihe an Hummer-Reusen ein, in denen sich lobstergroße Australische Langusten tummeln, die die Australier „Crayfish“ nennen. Sie sind auch der Grund, warum etwa 20 der Inselchen für einige Monate im Jahr von Fischern bewohnt werden, die hier einfache Hütten für die Langusten-Saison errichtet haben.

„Die Langusten sind der Grund, warum viele Gäste immer wieder kommen“, sagt Cox. „Wo sonst in der Welt kann man vom morgens bis abends fangfrischen Hummer essen, ohne sich vor der Rechnung fürchten zu müssen?“ Der Sohn eines Farmers kam ursprünglich als Surfer auf den Archipel, arbeitete seit 1977 als Langusten-Fischer und begann vor 20 Jahren, Kreuzfahrten für Touristen anzubieten. Seine Eco Abrolhos ermöglicht es bis zu 32 Passagieren und zehn Crew-Mitgliedern, die drei Teilarchipele der Wallabi-, Easter- und Pelsaert-Inseln zu erkunden. „Für Australier sind die Abrolhos nicht nur wegen ihrer Natur, den Langusten und Stränden interessant, die Inseln haben auch eine außergewöhnliche Geschichte. Und Taucher können hier um die 60 Schiffwracks entdecken“, sagt Cox.

Auf Beacon Island führt Amy Cabot die Passagiere der Eco Abrolhos über das mit Gestrüpp überwucherte Inselchen. Ein fettgefressener Seelöwe lässt sich am Rand einer türkis schimmernden Bucht den Pelz von der Morgensonne erwärmen. Die einzigen menschlichen Besucher auf seinem Eiland an diesem Morgen scheinen ihn kein bisschen zu interessieren. Heerscharen von Zügelseeschwalben und Dickschnabelmöwen umschwärmen die Touristen. Doch die Inselidylle trügt. „Hier drüben fanden Archäologen die Knochen von mehreren Frauen und Kindern“, sagt Cabot, die die Gruppe zu den historischen Stätten des Archipels führt. Sie weist auf eine Stelle hin, wo das Gebüsch anscheinend gerodet wurde und angehäuftes Korallengestein erahnen lässt, dass Menschen hier vor langem begraben wurden. Die Inseln bergen nicht nur Zeugnisse eines der ältesten, sondern auch eines der dunkelsten Kapitel europäischer Geschichte in Australien.

Am 4. Juni 1629 lief die Batavia, ein Segelschiff der Niederländischen Ostindien-Kompanie, das auf dem Weg nach Java war, unweit von Beacon Island auf ein Riff. Die Mehrheit der Besatzung, annähernd 300 Menschen, konnte sich auf Bea­con Island und einige Nachbarinselchen retten. Aufgrund unauffindbaren Trinkwassers und äußerst spärlicher Essensvorräten entbrannte unter den Schiffbrüchigen bald ein erbarmungsloser Überlebenskampf. Während der Kommandant François Pelsaert mit einem Teil der erfahrenen Seeleute in einem kleinen Beiboot Richtung Java aufbrach, um Rettung zu holen, erklärte sich der gewissenlose Unterkaufmann Jeronimus Cornelisz als Anführer einer Gruppe von Meuterern, die bald ein blutiges Schreckensregime auf den Inseln errichtete. „Die archäologischen Befunde bestätigen, dass viele der Passagiere grausam ermordet wurden“, sagt Cabot, „Beacon Island ist nicht von ungefähr als „Batavias Gräberfeld“ bekannt.“ Mehr als 100 Männer, Frauen und Kinder wurden hier innerhalb von vier Monaten ertränkt, erdrosselt, erschlagen oder in Stücke gehauen.

Einer Gruppe an Soldaten um den Aufständischen Wiebbe Hayes gelang es schließlich, auf einer nahen Insel Trinkwasser zu finden, Verteidigungsanlagen aus Stein zu errichten und sich Cornelisz zu widersetzen. Als der Kommandant Pelsaert zurückkehrte, ließ er Cornelisz und seine Schergen hängen.

Cabot bleibt vor einer mit aufgetürmten Steinplatten geschützten Grube stehen. „Hier wurde Cornelisz festgehalten, bevor man ihm die Hände abschlug und ihn da drüben auf Long Island hängte“, erklärt sie. „Die Steinreihen hier und die Schutzanlagen der Soldaten um Wiebbe Hayes auf West Wallabi sind die ältesten europäischen Bauten in Australien überhaupt.“

Das Wrack der Batavia und eine ganze Reihe weiterer historischer Schiffe, denen die gefährlichen Riffe der Abrolhos zum Verhängnis wurden, sind heute von Korallenfischen umschwärmte Tauchreviere. Ihren ersten Namen erhielt der Archipel einst von den Portugiesen. Abrolhos bedeutet so viel wie „Öffnet die Augen!“ Bereits die ersten Seefahrer warnten so vor den gefährlichen Riffen. Ein Augenöffner sind die Inseln selbst für Weitgereiste indessen bis heute geblieben. Wo sonst schon auf der Welt wähnt man sich noch immer ein wenig wie im Zeitalter der Entdeckungen? Zwar strandet nunmehr kaum noch jemand unfreiwillig auf den Abrolhos wie einst die Passagiere der Batavia – ein Abenteuer ist eine Expeditionsfahrt durch die vergessenen Inseln Australiens aber bis heute geblieben.

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