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Hölle des Nordens als ultimativer Prüfstein | ABC-Z

Tadej Pogačar hat mit gerade mal 26 Jahren eine Liste an Erfolgen vorzuweisen, die nicht nur lang, sondern spektakulär ist: Er hat dreimal die Tour de France gewonnen, den Giro d’Italia, die Spanien-Rundfahrt, er ist Straßen-Weltmeister und siegte bei den Monumenten Lüttich–Bastogne–Lüttich, der Lombardei- und der Flandern-Rundfahrt.

Was in seinem Palmarès, so nennen sie im Radsport die Erfolgsbilanz eines Fahrers, aber fehlt: Paris–Roubaix. Nie hat er den Eindruck erweckt, als könnte ihn die Größe einer Aufgabe einschüchtern. Nun wagt er sich also am Sonntag (10.30 Uhr live bei Eurosport) an ein Rennen mit ganz eigenen Gesetzen. Als erster aktueller Toursieger seit Greg LeMond 1991.

Wer Paris–Roubaix gewinnen will, braucht dafür mehr als schnelle Beine: Kraft, Robustheit, Mut – und Glück. Es ist, als würde das WM-Finale im Fußball nicht im Wembley-Stadion ausgetragen werden oder im Maracanã, sondern auf einem Bolzplatz mit Schlaglöchern, Staub und schiefen Linien. Die 259 Kilometer lange Strecke mit ihren dreißig Pflasterpassagen ist nichts für Leichtgewichte und nichts für Bergfahrer. Ob der Untergrund also auf Tadej Pogačar passt — da gehen die Meinungen auseinander.

„Ich rechne absolut mit ihm“

Tom Boonen, ein Volksheld in Belgien und vierfacher Roubaix-Sieger, sieht Pogačar vorn. „Er kann auf dem Rad alles“, sagt er. „Er ist schnell, elegant, technisch brillant. Ich bin hundertprozentig überzeugt, dass er auch dieses Rennen gewinnen kann. “ Pogačars Explosivität und die Fähigkeit, Rennen aus jeder Lage an sich zu reißen, machen ihn für viele zum ersten Siegkandidaten – sogar, wenn es über Pflastersteine geht. Auch der Niederländer Mathieu van der Poel, der Paris–Roubaix in den vergangenen beiden Jahren gewann, traut ihm den Sieg zu: „Ich rechne absolut mit ihm.“

Doch es gibt auch warnende Stimmen – nicht aus Zweifel an Pogačars Klasse, sondern mit Blick auf die Besonderheiten des Rennens. Der deutsche Profi Max Walscheid, 2023 Achter in Roubaix, nennt Pogačar einen „absoluten Siegkandidaten“, betont aber die Unwägbarkeiten: „Er setzt sich natürlich auch einem enormen Sturzrisiko aus – wie jeder, der in Roubaix startet.“

Deshalb war Pogačars Sportliche Leitung im UAE-Team auch alles andere als begeistert, als der Star erklärte, bei Paris-Roubaix starten zu wollen. Die Sorge: Ein Sturz könnte Pogačar die Teilnahme an der Tour kosten – der schlimmste anzunehmende Unfall. Pogačar aber sind solche vorauseilenden Ängste fremd.

Bekenntnis zur Herausforderung

Was ihn auf den Straßen im französischen Norden erwartet, hat er auf Erkundungsfahrten im Detail studiert. Walscheid erinnert sich an seine ersten Eindrücke: „Ich war vor meinem Debüt schon bei der Streckenbesichtigung ehrlich gesagt geschockt, dass man auf diesem Untergrund überhaupt ein Rennen fahren soll.“ Dass Pogačar nun die „Hölle des Nordens“ ansteuert, ist nicht nur sportlich bemerkenswert – es ist auch ein Bekenntnis zur Herausforderung.

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Und die beginnt früh. Walscheid erwartet ein hektisches Rennen: Für die 100 Kilometer lange Anfahrt zum ersten Pflastersektor in Troisvilles ist Rückenwind angesagt – das verspricht ein pfeilschnelles Rennen. „Ich kann mir ein Szenario vorstellen, dass das Feld geschlossen in den ersten Sektor fährt“, sagt Walscheid. „Und dann musst du unter den ersten 15 sein, um sicher zu gehen, da gut durchzukommen. Und selbst dann gibt es keine Garantie. Die nächsten Sektoren verlaufen ein bisschen im Zickzack, da kann dann Seitenwind aufkommen.“ Dazu vielleicht noch Nässe, eine gefährliche Mischung.

Sicher scheint: Es wird ein enges Rennen. Eins, für das Pogačar nicht den idealen Körper hat. Denn er wiegt lediglich 66 Kilogramm. Van der Poel bringt rund zehn Kilo mehr auf die Waage, ebenso der starke Belgier Wout van Aert. Auf flachem bis welligem Asphalt spielt das Gewicht keine große Rolle.

Doch auf Pflasterstein-Sektoren herrscht eine andere Dynamik: „Der Rollwiderstand auf Pflaster ist enorm“, sagt Walscheid. Schwere Fahrer haben mehr Trägheit, rollen ruhiger. Leichtere Fahrer müssen härter arbeiten, um die Linie zu halten, und werden stärker durchgeschüttelt.

Wichtig ist auch die Position auf dem Rad. Walscheid beschreibt das so: „Wer zu viel Gewicht auf dem Vorderrad hat, belastet Arme und Schultern übermäßig und spürt die Schläge direkt. Am besten sitzt man etwas hinter dem Tretlager.“ Pogačar hingegen sitzt weit vorne auf dem Sattel. Nicht optimal auf Kopfsteinpflaster.

„An der Haftungsgrenze der Reifen“

Paris-Roubaix verlangt von den Fahrern auch eine außergewöhnliche Radbeherrschung. „Viele Sektoren sind uneben, man fährt an der Haftungsgrenze der Reifen“, sagt Walscheid. „Da hilft ein gutes Gefühl für den Untergrund – etwas, das man aus dem Cross-Sport mitbringt.“ Van der Poel und van Aert, beide vielfache Cross-Weltmeister, haben hier Vorteile. Pogačar kommt von der Straße, nicht aus dem Gelände. Doch auch er beherrscht sein Rad, ist ein feiner Techniker und hat bei Tour-Etappen schon gepflasterte Passagen gemeistert.

Gewinnt Pogačar , wäre das mehr als ein sportlicher Erfolg. Es wäre der nächste Schritt auf einem langen, steinigen Weg an die Seite von Eddy Merckx. Der Belgier ist der größte Rennfahrer der Geschichte – bis jetzt. Um ihn zu erreichen, muss Pogačar mehr als nur Grand Tours im Dutzend gewinnen. Er muss Siege bei allen fünf Monumenten sammeln. Drei hat er schon. Bei Mailand-Sanremo wurde er jüngst nur Dritter. Nun steht also Roubaix an, der ultimative Prüfstein.

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