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Hirnforscher erklärt warum unser Gehirn soziale Interaktionen braucht | ABC-Z

taz: Herr Rein, schön, dass wir uns sehen. Sie sagen, das sei gut für unser Gehirn?

Ben Rein: Unser Hirn ist auf Kontakt programmiert. Viele Aktivitäten, die früher persönlichen Kontakt erforderten, werden nun automatisiert. Wenn Sie zur Bank gehen, gehen Sie zum Geldautomaten anstatt zum Bankschalter. Arbeit findet immer öfter isoliert von zu Hause aus statt. Früher haben Sie vielleicht in einem Restaurant gesessen und mit dem Kellner gesprochen. Jetzt stellen Ihnen die Leute Ihr Abendessen einfach vor die Tür. Die Abwesenheit all dieser kleinen Interaktionen reduziert etwas, das ich unsere soziale Diät nenne. Diese ärmere soziale Diät hat dazu geführt, dass wir weniger Interaktion untereinander erwarten.



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Foto: Elena Zhukova

Im Interview: Ben Rein

Neurowissenschaftler an der Stanford University. Sein Buch „Happy Hirn: Warum unser Gehirn Beziehungen braucht“ erscheint Ende November bei Kösel.

taz: Welche Rolle hat die Pandemie dabei gespielt?

Rein: Auch sie hat unsere soziale Diät ärmer werden lassen. Neben der Automatisierung ist die Pandemie der zweite große Faktor dieser Entwicklung. Das Gehirn macht ständig Vorhersagen darüber, was in der Welt um uns herum passiert. Es weiß, wie viel Nahrung wir zu uns nehmen werden, wie viel Schlaf wir bekommen werden, wie viel sozialen Kontakt wir haben werden.

Das basiert auf unseren bisherigen Erfahrungen. Als dann Covid ausbrach und alle in Quarantäne oder Isolation geschickt wurden, war es, als würden in unserem Gehirn Alarmglocken läuten: Oh mein Gott, das ist so viel weniger sozialer Kontakt, als ich gewohnt bin. Ich fühle mich so einsam. Die Zahlen belegen, dass während der Pandemie soziale Isolation zu höheren Werten bei Depressionen und Angstzuständen geführt hat. Doch nach einigen Monaten hat sich das Gehirn an die neue Realität angepasst.

taz: Man gewöhnt sich an Einsamkeit?

Rein: Wenn ich zuvor damit gerechnet habe, meine Kol­le­g:in­nen sieben bis zehn Stunden pro Woche zu sehen, waren es während der Pandemie null Stunden. Jetzt, da die Pandemie für die meisten Menschen vorbei ist, haben wir uns auf ein niedrigeres Level an sozialem Kontakt eingestellt.

taz: Wenn ich in einer überfüllten U-Bahn sitze und dabei viel zu viele Menschen höre, bin ich froh über Hilfsmittel wie geräuschunterdrückende Kopfhörer. Kann es manchmal auch sinnvoll sein, die soziale Diät zu verarmen?

Rein: Es ist natürlich okay, in einer unangenehmen Umgebung die sensorischen Reize zu unterdrücken. Wir haben aber eine sehr lange Evolutionsgeschichte, in der wir als Gruppe sehr gut überleben konnten. Unser Gehirn ist so verdrahtet, dass wir es als belohnend und angenehm empfinden, mit anderen zusammen zu sein. Die dabei involvierten Neurotransmitter heißen Oxytocin, Dopamin und Serotonin, sie sind umgangssprachlich auch als Glückshormone bekannt.

taz: Was passiert, wenn der Kontakt, also die Glückshormone ausbleiben?

Rein: Isolation aktiviert das Stressreaktionssystem, was sich negativ auf die Gesundheit auswirkt. Wenn der Stress chronisch wird, wird es wirklich problematisch. Einsame Menschen haben ein höheres Risiko für Diabetes, Depressionen, Angstzustände, Demenz und Suizid. Betrachtet man allein die Sterberate, haben einsame Menschen ein um 50 Prozent erhöhtes Risiko, zu sterben. Diese Ergebnisse stammen aus Langzeitstudien mit Hunderttausenden von Menschen. Es ist tatsächlich so, dass wir uns durch scheinbar harmlose, unbedenkliche Entscheidungen, wie am Freitagabend zu Hause zu bleiben, nicht im Büro zu arbeiten oder unsere Lebensmittel online zu bestellen, wenn sie sich dauernd wiederholen, einem Gesundheitsrisiko aussetzen.

taz: In Ihrem Buch schreiben Sie aber auch, dass unser Gehirn einige Merkmale aufweist, die uns daran hindern, empathisch miteinander umzugehen.

Rein: Empathie ist die Fähigkeit, die Emotionen einer anderen Person zu verstehen und selbst zu spüren. Kommunikation durch Empathie war früher unglaublich hilfreich für das Überleben in Gruppen. Wenn man zum Beispiel die Wut von jemandem spürt, der kurz davor ist, einen Streit anzufangen, kann man eingreifen und den Streit verhindern, bevor er ausbricht. Aber stellen Sie sich vor, Sie treffen auf ein Mitglied einer rivalisierenden Gruppe, das verletzt am Boden liegt. Für Sie wäre es besser, der Person nicht zu helfen. Ihr Gehirn ist also besser dran, wenn es sich nicht in die Person hineinversetzt und ihren Schmerz spürt.

taz: Das war vor vielen tausenden von Jahren. Helfen uns solche Übertragungen heute überhaupt noch?

Rein: Wir leben in einer gänzlich anderen Welt. Aber die Hardware unseres Gehirns ist immer noch dieselbe. Das beweist die Forschung. Menschen zeigen weniger Empathie für Unbekannte, wenn sie einer anderen Religion angehören, eine andere politische Einstellung haben, eine andere sexuelle Orientierung oder Hautfarbe. Wenn Menschen eine Trennlinie zwischen sich und Unbekannten ziehen können, werden die Hirnareale, die Empathie steuern, nicht so stark aktiviert.

Deshalb macht mir die zunehmende Polarisierung, wie ich sie in den USA beobachte, Angst. Wenn ich einen neuen Nachbarn habe und mich in gutem Willen vorstellen will, aber dann sehe, dass im Vorgarten die Flagge einer Partei gehisst wurde, die ich nicht gut finde, wird mein Gehirn der Person weniger Empathie entgegenbringen.

taz: Anders als vor tausenden von Jahren können wir heute das Leid auf entfernten Kontinenten in Echtzeit in unserem Social-Media-Feed verfolgen. Es gibt Studien, die zeigen, dass es da auch ein überforderndes Maß an Empathie geben kann. Das führt dazu, dass wir ausbrennen oder abschalten. Wie finden wir das richtige Maß?

Rein: Ich habe darauf auch keine Antwort. Während der Ausbildungszeit von Ärzten beispielsweise nimmt ihre Empathie immer weiter ab, da sie ständig mit Schmerz und Leid konfrontiert sind. Ihr Gehirn lernt, sie davor zu schützen, da es erkannt hat, dass zu viel Empathie überfordernd ist und somit nicht zielführend. Wir werden in einer global vernetzten Welt ständig mit Leid konfrontiert, gegen das wir nichts tun können. Für mich bleibt trotzdem das bestmögliche Szenario, dass wir unsere Empathie beibehalten.

taz: Ist unser Gehirn in der Lage, angelernte Muster wie Sexismus und Rassismus aktiv zu verlernen?

Rein: Dazu gibt es einen interessanten Bericht aus den USA. Ein Neonazi meldete sich freiwillig für eine Studie, in der MDMA zur Behandlung von posttraumatischen Belastungsstörungen eingesetzt werden sollte. MDMA, auch als Ecstasy bekannt, ist eine der wenigen Drogen oder Medikamente auf der Welt, die Empathie fördern. Er nahm also an dieser Studie teil, die überhaupt nicht seine Ansichten zum Thema hatte, und kam völlig wesensverändert daraus hervor.

Er bedankte sich bei den Wissenschaftlern, sagte, dass Liebe die Antwort auf alles sei, und identifizierte sich nicht mehr als Neonazi. Für mich verdeutlicht diese Geschichte die Bedeutung von Empathie. Wenn man andere Menschen als Menschen wie sich selbst betrachten und ihre Emotionen nachempfinden kann, macht das sie menschlich.

taz: Kostenloses MDMA für alle Neonazis. Das klingt gut, aber …

Rein: … ist natürlich nicht das, was uns aus dieser Situation herausbringen wird. Aber MDMA fördert die Ausschüttung von Neurotransmittern, die für soziale Interaktionen wichtig sind und die auch ohne MDMA in unserem Gehirn wirken. Wenn eine Droge uns dorthin bringen kann, indem sie einfach unsere Neurochemie verändert, warum könnten dann nicht auch unsere Erfahrungen oder unser Verhalten uns dorthin bringen, indem wir unsere Neurochemie auf ähnliche Weise verändern? Tatsächlich gibt es Nachweise dafür, dass man seine Empathie trainieren kann, und zwar auf eine Weise, dass sich das Aussehen und die Struktur des Gehirns ändert. Es gibt einen Weg nach vorne, aber dieser erfordert Anstrengung.

taz: So wie Sie über das Gehirn reden, klingt es, als seien wir Menschen Roboter, gesteuert durch einen Hirncomputer, der sich durch Chemie nach Bedarf verändern lässt. Lässt sich wirklich alles im Menschen durch Neurochemie erklären?

Rein: Ich glaube, letztendlich läuft alles auf die Neurophysiologie hinaus. Ich betrachte das Gehirn tatsächlich wie einen Computer, und jede Erfahrung, die wir machen, und jedes Gefühl kann durch elektrochemische Signale erklärt werden, die in diesem Moment in unserem Gehirn stattfinden. Ich denke viel darüber nach, wie es wäre, wenn unsere Gehirne transparent wären. Wenn ich einen Moment religiöser Inbrunst erlebe, oder eine andere, bewegende, lebensverändernde Erfahrung, und dann einen Schnappschuss vom transparenten Gehirn mache, hätte ich die mit diesem Gefühl verbundene Neurochemie.

Aufgrund der Komplexität unserer Neurobiologie sind zwar Zustände möglich, die unerklärlich erscheinen. Vielleicht werden wir niemals mithilfe von Bildgebungsverfahren des Gehirns Mystik verstehen können. Ich glaube aber nicht, dass es etwas gibt, das über das hinaus geht, was im Gehirn passiert.

taz: Wir haben schon sehr viel von sozialer Interaktion gesprochen: Macht es einen Unterschied für das Gehirn, ob ich jemandem gegenübersitze oder wir per Smartphone sprechen?

Rein: Dazu gibt es leider wenig Studien. Aber ich sehe es so: Wenn wir von persönlichen Treffen zu Videokonferenzen übergehen, verlieren wir den Blickkontakt. Wenn wir von Videokonferenzen zu Telefonaten übergehen, verlieren wir Mimik und Körpersprache. Wenn wir vom Telefonat zur Textnachricht wechseln, verlieren wir den Tonfall. So verlieren wir Stück für Stück auch die Hinweise, die unserem Gehirn mitteilen, dass wir mit einem anderen Menschen interagieren. Diese sozialen Signale sind aber wichtig für unsere Empathie.

taz: Geht es deshalb in den sozialen Medien und auch sonst online oft so hässlich zu?

Rein: Ja. Unsere Empathiesysteme im Gehirn schalten sich aus und wir neigen viel eher zu feindseligem Verhalten. Das geht Hand in Hand mit dem Ausbleiben von einem Gefühl von Belohnung, das wir oft nach realen Interaktionen spüren. Dazu gibt es zwar noch keine neurologischen Belege, aber nachweislich sind Menschen glücklicher, wenn sie mit echten Menschen interagieren als online.

taz: Ob wir sozialen Kontakt fördern, ist auch eine politische Entscheidung, zum Beispiel in der Frage, wie Städte geplant werden. Welche Veränderungen auf dieser Ebene brauchen unsere Gehirne, damit wir mehr Freunde finden?

Rein: In der Gesundheitspolitik gibt es Bemühungen, Missstände anzugehen wie beispielsweise, dass nicht alle Menschen genug zu essen haben. Wir brauchen ähnliche Bemühungen auch bei emotionalen Missständen – wie die zunehmende Isolation. In einem Museum in meiner Heimatstadt gibt es zum Beispiel ein monatliches Treffen für Menschen mit Gedächtnisproblemen. Da treffen sich Leute, die sonst nicht so viel aus dem Haus gehen, und unterhalten sich. Soziale Interaktion kann eine Form der Gesundheitsförderung sein.

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