“High Stakes”: Der Weg zur NASA führt über den Pokertisch | ABC-Z

So eine Hauptfigur hat es im deutschen Serienfernsehen noch nicht gegeben: gläubige Muslima, Tochter türkischer Einwanderer in München, die Astrophysik studiert, ein Praktikum bei der NASA ergattert hat und davon träumt, die erste Kopftuch tragende Astronautin zu werden. Klingt nach dicken Brettern? Die Prämisse geht noch weiter: Weil ihr das nötige Geld fehlt, um das Praktikum in den USA anzutreten, gerät sie in die Münchner Pokerszene und erweist sich dort als Naturtalent in Sachen Zocken und Bluffen.
Was so verdichtet nach arg überfrachteter Erzählung klingen könnte, erweist sich in Wahrheit als eine der psychologisch glaubwürdigsten und emotional mitreißendsten deutschen Serien des Jahres. Mit ihrer Hauptfigur Ayla entwerfen die Headautoren Kathrin Tabler und Orkun Ertener eine moderne Heldin von nebenan, die erstaunlich vielfältige Projektionsflächen bietet. Und die 27-jährige Ausnahme-Entdeckung Via Jekeli (Sue aus “Boom – Eine Band, 1000 Probleme”) bringt das anspruchsvolle Konzept mit einer unaufdringlichen Selbstverständlichkeit ins Ziel, wie sie nur die Größten beherrschen.
Aber der Reihe nach: Als Ayla zu Beginn der Serie vom Studium aus Heidelberg in ihr Münchner Elternhaus zurückkehrt, läuft außer der vagen Aussicht auf ein halbes Jahr bei der NASA nicht viel nach ihren Wünschen. Die säkulare Mittelstandsfamilie scheint mehr mit Aylas Kopftuch zu fremdeln als mit der türkischen Dating-App, die ihr Bruder Tolga groß herausbringen will. Vom Vater, der nicht ahnt, dass Tolga schwul ist, gibt’s 50.000 Euro für dessen Start-up und eine gut gemeinte Jobvermittlung für Ayla: Sie soll als Mathematikerin bei der Versicherung anfangen, für die auch ihr Vater arbeitet. Kaum hat sie ausgerechnet, dass sie zur Erfüllung ihres Traums 22.000 Euro innerhalb weniger Wochen braucht, wird durch Zufall ihr Pokertalent entdeckt – ausgerechnet von Tolgas heimlichem Lover Vincent (Jannik Schümann), einem ehemaligen Poker-Profi.
Aus Zuschauersicht macht es diebischen Spaß, Ayla dabei zu beobachten, wie sie intuitiv selbst furchteinflößende Alphamänner in illegalen Hinterzimmern vorführt. Die nüchterne Analytik der Wissenschaftlerin bringt sie schon mit, das Handwerk des Täuschens und Entschlüsselns (“Du spielst den Gegner, nicht das Spiel”) lernt sie rasch unter Vincents Anleitung. Anfangs sind die Rollen klar verteilt: hier die nervöse, aber entschlossene Außenseiterin – dort der geheimnisvolle Verführer, den Schümann mit schillernder Undurchsichtigkeit gibt. Je souveräner Ayla am Pokertisch aufspielt und je mehr zum reinen Geldmotiv auch die Faszination des Risikos hinzukommt, desto stärker dreht sich die Dynamik zwischen beiden.
© ZDF/Jürgen Olczyk
Nächtliches Alter Ego: Ayla wird zur sexy gestylten Nina, um die Sünde nicht ganz an sich heranzulassen
Trotz mancher Countdown-Inszenierung resultiert die eigentliche Spannung bei “High Stakes” nicht aus der Frage, ob Ayla es schafft, genug Geld einzuspielen. Im Zentrum steht vielmehr die Frage, ob und wie sie all jene Widersprüche auflösen kann, von denen sie permanent umgeben scheint: Wie passen Wissenschaft und Glauben zusammen? In einer anrührenden Szene erläutert Ayla einer Nachhilfeschülerin, das Universum sei viel zu geordnet und viel zu schön, um zufällig entstanden zu sein. Atheist könne nur sein, wer nicht genau hinschaue. Wie passen Glücksspiel und Korantreue zusammen? Ayla zieht eine Perücke übers Kopftuch und verwandelt sich in Nina, ihr sexy gestyltes, nächtliches Alter Ego, um die Sünde nicht ganz an sich heranzulassen. Überhaupt erzählen Tabler und Ertener wunderbar beiläufig auch von Religion und Glaubenssuche, ohne dabei eine spezifische Islam-Problematisierung vorzunehmen.
Der letzte und entscheidende Widerspruch liegt darin, dass Aylas anfängliche Rationalität durch Ninas wachsende Euphorie und den Reiz des Verbotenen ins Wanken gerät. Jekeli zeigt mit ihrem durchlässigen Spiel eine Heldin, die einerseits die eigene dunkle Seite lustvoll austestet, andererseits immer wieder Halt in den selbst auferlegten Regeln findet. Ungewohnte, klischeefreie Blickwinkel machen “High Stakes” zum besonderen TV-Erlebnis, das von Marijana Verhoefs intensiver, schnell getakteter Regie profitiert.
“High Stakes”, ab sofort im ZDF-Streaming-Portal, ab 14. September, 20:15 Uhr auf ZDFneo