„Heretic“, „Conclave“ und „Russians at War“ beim Filmfest Toronto | ABC-Z

Der deutsche Regisseur Edward Berger hat es weit gebracht. Nachdem er sich einige Zeit in den hierzulande üblichen Formaten bewegt hatte (hier einmal ein kleiner Autorenfilm wie „Jack“, der es 2014 in den Wettbewerb der Berlinale schaffte, dort einmal ein „Tatort“ oder ein anderer Fernsehkrimi), drehte er schließlich 2022 für Netflix eine neue Adaption von Erich Maria Remarques Antikriegsklassiker „Im Westen nichts Neues“ – und schaffte es damit prompt bis zu den Oscars. Halb Deutschland nahm daran intensiv Anteil, es war fast ein wenig so wie damals, als Joseph Ratzinger zum Papst gewählt wurde. Zwar titelte in diesem Fall keine Zeitung „Wir sind Hollywood“, aber das war etwa der Tenor. Man konnte also einigermaßen gespannt sein, was Berger als Nächstes machen würde. Nach dem großen Erfolg mit „Im Westen nichts Neues“ hatte er alle Karten in der Hand. Vergangene Woche wurde beim Toronto International Film Festival (TIFF) das Geheimnis gelüftet. Der Thriller „Conclave“ feierte Weltpremiere.
Vorlage ist der gleichnamige Roman von Robert Harris, einem ausgewiesenen Könner in den Spannungsgenres. Trotz der sinkenden Bedeutung der römisch-katholischen Kirche ist das Wort „Konklave“ immer noch vielen Menschen geläufig. So nennt man die Versammlung der Kardinäle, die aus ihrer Mitte einen neuen Papst wählen, wenn ein Kirchenoberhaupt verstorben ist. Wenn weißer Rauch über dem Vatikan aufsteigt, dann ist eine Entscheidung gefallen: „Habemus papam.“
Eine Allegorie auf Bruchlinien der heutigen Gesellschaften
In dieses Wir dürfen sich deutlich mehr Menschen einbezogen fühlen, als die Kirche an Mitgliedern zählt. Der Papst hat immer noch eine symbolische und moralische Autorität, oder er reklamiert sie zumindest für sich. Auf diese Breitenwirksamkeit reflektiert wohl auch Edward Berger, denn sein „Konklave“ kann man durchaus auch als eine Allegorie auf Bruchlinien in heutigen Gesellschaften sehen.
In erster Linie aber lebt der Film von der Klassizität des Prozederes: den beeindruckenden Schauplätzen, dem rituellen Latein, den opulenten Kostümen. Ralph Fiennes (beim TIFF in diesem Jahr auch als Odysseus in dem altmodischen Antikenfilm „The Return“ von Uberto Pasolini zu sehen) spielt den Zeremonienmeister Kardinal Lawrence, der zwischen Liberalen und Konservativen, Eitlen und Ehrgeizigen, Politikern und Mystikern einem Heiligen Geist Geltung verschaffen will, an dem er innerlich zweifelt. Edward Berger zeigt sich mit „Konklave“ neuerlich als kompetenter Handwerker, der die Traditionen des alten Hollywood in die Ära der Streaming-Plattformen überführt. Im dem längst globalen, immer noch aber amerikanisch dominierten Filmgeschäft, das beim TIFF jedes Jahr im September seine Börse abhält, ist er schon ein etablierter Name. Gespannt kann man nun eher sein, ob er irgendwann noch einmal ein persönlicheres Projekt versuchen wird.
Zum TIFF fährt man, wenn man sich einen Überblick über die Jahresproduktion aus Cannes, Locarno, Venedig verschaffen will, aber auch, um Titel zu sehen, die demnächst für Furore sorgen könnten. Im Vorjahr war „Dream Scenario“ so ein Film, in diesem Jahr fiel „Heretic“ in diese Kategorie – eine religionskritische Horrorkomödie von Scott Beck und Bryan Woods, in der Hugh Grant, das alternde Idol so vieler Rom-Coms, seine vielleicht größte Rolle hat. Zwei junge Frauen klopfen an die Tür einer Villa irgendwo in Amerika. Sie wollen einen Täufling finden für die mormonische Gemeinschaft, deren Glauben sie teilen. In den holzgetäfelten Räumen erwartet sie ein Albtraum der ganz besonderen Art. Denn zuerst einmal erweist sich dieser Mr. Reed (auch ein belesener Mr. Read) als Sophist. Er kontert elegant und mit sarkastischem Sinn für Paradoxa den naiven Glauben der beiden Missionarinnen. Und bald merken sie, dass sie aus diesem Haus vielleicht nie wieder hinausfinden werden. Denn die scheinbar aufklärerischen Fragen von Mr. Reed bekommen einen sadistischen Unterton, und als er ihnen schließlich einen scheinbaren Ausweg eröffnet, folgt dieser einer Logik grausamer Ironie: Auf einer Tür steht „Glauben“, auf einer „Unglauben“, es versteht sich von selbst, dass beide in die Hölle führen. Das aktuelle Kultstudio A24 erweist sich mit „Heretic“ wieder einmal als ein Labor, in dem das Formelkino originell und hochintelligent auf neue Ebenen gebracht wird.
Das Festival in Toronto ging am vergangenen Mittwoch schon auf die Zielgerade, als eine größere Menschenmenge die belebte Hauptstraße ein paar Schritte westlich des Finanzzentrums versperrte, in der die wichtigsten Treffpunkte für die Besucher liegen. Blau-gelbe Flaggen ließen erkennen, dass die Demo mit der Ukraine zu tun hatte. Die Parole „Shame on TIFF“ hatte mit dem Dokumentarfilm „Russians at War“ von Anastasia Trofimowa zu tun, der eine Woche zuvor in Venedig Weltpremiere gehabt hatte und nun auch in Toronto auf dem Programm stand. Die meisten Demonstrierenden hatten nur den Trailer gesehen, vermuteten aber russische Propaganda. Vermutlich würden sie den Vorwurf auch bei Kenntnis des ganzen Films nicht zurücknehmen. Denn Anastasia Trifomowa zeigt den Krieg in der Ukraine aus der Sicht einfacher russischer Beteiligter. Sie folgte einem Soldaten an die Front und teilte dann über mehrere Monate den Alltag des Fußvolks des Krieges, zuerst bei Krasnyj Lyman, später vor Bachmut. Über die genauen Umstände des „embedments“ lässt der Film vieles offen, aber offensichtlich hatte Trofimowa auf eine Weise Zugang, die entweder auf einen kühnen Akt von Guerilla-Kino oder eben doch auf offizielle Unterstützung schließen lassen – diese zweite Version unterstellen auch die Gegner des Films, die in der Regisseurin eine Agentin des Kremls sehen.
Und doch ist „Russians at War“ deutlich als ein Antikriegsfilm lesbar. Trofimowa zeigt, dass die Russen, die in der Ukraine verheizt werden, in erster Linie aus finanziellen Motiven dort sind, dass sie, nachdem sie ihre Verträge abgedient haben, unbesoldet weiterkämpfen müssen. Sie zeigt, wie sich die Propaganda niederschlägt, wie aber auch Zynismus und Alkohol alles prägt. Und sie zeigt eine nach wie vor enorme Wirkungsmacht der Sowjetunion. Eine junge Sanitäterin erzählt, dass ihre Weltsicht durch die alten Filme aus dieser Zeit geprägt ist, die sie als „unzynisch“ sieht. Die Implikation, dass sie in einem zynischen Krieg dient, spricht sie nicht aus, ist aber aus „Russians at War“ herauszulesen. Trofimowa ist vor allem mit ihren Fragen aus dem Off in ihrem Film präsent. Es sind die einfachen Fragen, die sich aus einer humanistischen Perspektive stellen.
„Russians at War“ aber ist nun unweigerlich auch selbst Konfliktstoff, der Film gehört zur kriegerischen Auseinandersetzung. Das TIFF beugte sich schließlich den Kundgebungen und sagte die Vorführung ab – offiziell aus Sicherheitsgründen. Die Diskussion über die Rolle des Kinos im Krieg in der Ukraine, die im Februar mit Oksana Karpovychs „Intercepted“ auf der Berlinale so eindringlich eröffnet wurde, wird nun in die nächsten Runden gehen müssen. Doch eines lässt sich über „Russians at War“ doch deutlich sagen: Wenn es für die russischen Kämpfer einen Feind gibt, dann ist es der Mann im Kreml.