Herausragend: “Stiller” mit Paula Beer und Albrecht Schuch | ABC-Z

Ein Roman von 1954 beschreibt die Midlife-Krise eines Anfang 40-Jährigen. Eine Verfilmung von heute, muss sich also die Frage stellen lassen: Ist das zeitlos genug, um auch noch 70 Jahre später in der völlig anderen Gesellschaft von heute zu funktionieren?
“Stiller” des Schweizer Autors Max Frisch war sein literarischer Durchbruch und mit millionenfacher Auflage ein globaler Bestseller, dessen berühmter Auftakt-Satz “Ich bin nicht Stiller” eigentlich schon die ganze Geschichte enthält: Ein angeblicher US-Amerikaner will in die Schweiz einreisen, wird aber an der Grenze für den verschollenen Bildhauer Anatol Stiller gehalten, der wegen unterstellten linksradikalen Verstrickungen noch staatsanwaltlich gesucht wird.
Die Rolle der Frauen: Paula Beer als Stillers Frau
Selbst Stillers Frau meint, ihren Gatten, der vor sieben Jahren abgehauen war, wiederzuerkennen. Doch der besteht darauf, jemand anderes zu sein und seine eigene, amerikanische Geschichte zu erzählen. Frisch hat in diese Identitäts-Fragegeschichte Krimi-Elemente eingebaut sowie seinen fragmentarischen Tagebuchstil. Und hinter allem liegt die Frage, wie sich das Mann-Sein zu Partnerschaft, Ehe, Familie und Bürgerlichkeit verhält.
Der deutsch-schweizer Regisseur Stefan Haupt hat seinen “Stiller” sehr nah am Werk und in der Zeit der Romanvorlage gehalten, weil die Lebensfragen des Werkes zeitlos und allgemeingültig sind. Eingegriffen hat er nur, indem er die Frauenfiguren aufgewertet hat – Stillers Frau Julika (Paula Beer) und eine Affäre aus der Nachkriegszeit (Marie Leuenberger).
Im weiten Feld der Männlichkeit
Beide sind stark, mehr im Leben stehend als dieser Stiller, der in der Behauptung ein Mr. White zu sein, beides in sich einschließen kann: Die Sensibilität des Künstlers mit Selbstzweifeln, die Stärke, ein komplett neues Leben beginnen zu können, ein Stierkampf-Bewunderer zu sein, aber im Spanischen Bürgerkrieg den entscheidenden Schuss auf Faschisten nicht abgegeben zu haben.
So machen Stiller und Mr. White ein Männlichkeitsfeld auf, zwischen Werther und Hemingway. Und Albrecht Schuch kann so sein ganzes schauspielerisches Können entfalten.
Weil aber eben auch aufseiten der Frauen ein großes Feld der Lebensentwürfe und Brüche, des Pragmatismus und der großen Gefühle aufgerissen ist, gelingt insgesamt ein großartiges psychisches Panoptikum – den Zuschauer selbstbefragend und herausfordernd, alles klassisch, gleichzeitig krimispannend erzählt, wobei Haupt ein extrem gutes Gefühl für Bilder und Rhythmus hat, sogar das Fragmentarische von Erinnerungen und Fantasie einbaut und dennoch ungemein flüssig erzählt. Dieser „Stiller“ wird noch einen Preisregen erleben, weil er meisterhaft ist.
Filmfest, 1. Juli, 21 Uhr, Deutsches Theater sowie Do, 3. Juli, 17.30 Rio (mit Filmgespräch mit Regisseur Stefan Haupt)