Kultur

Heine-Preis-Dankesrede von David Grossman | ABC-Z

Ich schaue mir Heinrich Heines Porträt an. Mustere die faszinierenden Züge eines jungen Mannes, der um seinen eigenen Wert weiß. Fein sind sie, aber auch ironisch, vielleicht sogar sarkastisch. Ein Gesicht voller Widersprüche, das Gesicht eines kühnen Dichters, eigenwillig, mutig und sensibel, vor allem aber spiegeln sie eine Seele wider, die sich in keine Definition einsperren lässt.

Obwohl sein Tod mehr als 160 Jahre zurückliegt, ist Heinrich Heine in der Welt der deutschen Kultur immer noch präsent. Im hebräisch-jüdischen Sprach- und Kulturraum hingegen kennt man ihn kaum: Das Judentum kann abweisend und vergeltungssüchtig sein. Es hat ihm die Bekehrung zum Christentum nie verziehen.

Über den menschlichen Vulkan, der er war, ist bereits viel geschrieben und gesagt worden. Was könnte ich dem noch hinzufügen? Nur sehr wenig. Aber ich werde ihm jetzt einen kurzen Vortrag über die Toleranz halten, über die Literatur als Weg, unser inneres Verständnis für andere zu stärken. Einiges darin Gesagtes wird ihm, seinem Leben und seinem Vermächtnis hoffentlich nicht völlig fremd sein.

Toleranz ist dem Menschen nicht angeboren

Wir Menschen sind keine toleranten Geschöpfe. Amos Oz, mein lieber Freund und Träger des Heinrich-Heine-Preises von 1992, erklärte mir einmal: Wir werden ausgesprochen antitolerant geboren. Wir sind Fremden gegenüber misstrauisch. Die Angst vor Fremden, besonders vor denen, die nicht so sind wie wir, ist uns angeboren. Wir sind regional verankerte, besitzergreifende, auf Wettbewerb ausgerichtete Wesen; unser Ethos besteht aus zahllosen Erzählungen von Kriegen und Vertreibungen.

Kurz gesagt: Toleranz scheint keine dem Menschen von Natur aus innewohnende Eigenschaft zu sein. Bei nicht wenigen von uns erscheint sie authentisch, nicht bloß eine hohle, klischeehafte Deklamation, sondern eher das Ergebnis einer bewussten, emotionalen Anstrengung, eines Bemühens, den ursprünglichen Impuls mithilfe von Bildung und Erziehung zu überwinden; vor allem aber dürfte sie die Frucht eines empathischen und großzügigen Charakters sein.

Von der Literatur wie auch vom Journalismus, den Künsten des Geschichtenerzählens, lässt sich etwas über Toleranz lernen, über die Erweiterung der menschlichen Begrenztheit, aber auch über den Punkt, an dem unsere Natur uns bremst und mit geballter Faust hervorschnellt.

Was den Kern der Literatur ausmacht

Meiner Ansicht nach entspringt der Kern der Literatur, sowohl des Lesens als auch des Schreibens, dem dringenden Wunsch, einen anderen Menschen im Innersten zu verstehen, das heißt, ihn mit seinen eigenen Begriffen zu verstehen, seine innere Grammatik zum Sprechen zu bringen – und nicht die meine, die ich auf die anderen projiziere oder aber ihnen aufzuzwingen versuche.

Einen anderen in seinem Innersten zu erkennen. Das kann ein spannendes zwischenmenschliches Experiment sein: sogar mitten im Streit zwischen einem Mann und einer Frau, einer Konfrontation zwischen zwei Brüdern oder zwei Freunden.

Wären wir denn in der Hitze des Gefechts, wenn auch nur für einen Moment, fähig, vom Fokus der Feindschaft Abstand zu nehmen? Könnten wir den gerade tobenden Konflikt mit den Augen unseres Gegners, und nicht nur mit unseren eigenen, beobachten? Würden wir uns beispielsweise erlauben, zwei oder drei seiner Argumente für richtig zu halten? In der Tat: Den Anderen aus seinem Inneren heraus zu verstehen stellt eine Herausforderung dar, der nur wenige Nationen, Gesellschaften oder Gemeinschaften sich stellen können – oder wollen. Vielleicht gerade, weil es sie zu einem Perspektivwechsel zwingt, zu einer Veränderung ihres Narrativs, der Geschichte, die sie sich selbst schon seit Generationen erzählen. Ein Narrativ ist oft eine Falle, die eine ganze Nation sich selbst stellt. Für mich ist ein Narrativ eine humane Erzählung, die erstarrt ist und auch den erstarren lässt, der sie vorträgt, ohne ihr noch zuzuhören.

Können wir den Schmerz des Gegners anerkennen?

Nur eine Veränderung des Blickwinkels auf die Geschichte, sei sie privat oder national, und vor allem die Bereitschaft, der Version des Anderen zuzuhören, kann den feststeckenden Karren wieder aus dem Dreck der versteinerten Wirklichkeit ziehen. Nur ein solcher Umschwung kann die verschiedenen Vorstellungen, die wir uns von unseren Feinden gemacht haben, mit Lebendigkeit und Authentizität füllen und die Gegner – und damit auch uns – zu wirklichen Menschen machen. Wenn das nicht geschieht, wird es niemals Frieden geben. Dermaßen einfach ist das. Und dermaßen schwierig.

Aber es stellen sich noch weitere Fragen: Werden wir es im Laufe eines solchen Perspektivwechsels wagen, den Schmerz der Anderen anzuerkennen? Werden wir uns gemeinsam eingestehen können, dass das Leid der Palästinenser in bestimmten Punkten authentisch und keineswegs manipuliert ist? Werden unsere Herzen sich für einen Moment der Not dieser Menschen, ihren Wunden, ihren Verletzungen zu öffnen vermögen? Und werden sie, die Palästinenser, jemals fähig sein, die beispiellose Tragik der jüdischen Geschichte zu verstehen?

Werden wir, die Israelis, es fertigbringen, uns selbst mit dem entblößenden Blick der Palästinenser zu betrachten? Schließlich sind die Besetzten diejenigen, die vor allen anderen beobachten, was Jahrzehnte der Besatzung den Besatzern angetan haben. Wird dieser Blick, also unser Blick auf uns selbst, uns endlich klarmachen, welchen Schaden nicht nur der Feind, sondern der Konflikt selbst uns, die wir nun schon mehr als hundert Jahre mit ihm leben müssen, zugefügt hat? Ich frage auch mich, ob ich wohl die Innensicht eines IS- oder Hizbullah-Kämpfers erforschen könnte. Eines Hamas-Mörders, der sich am 7. Oktober an den Massakern beteiligte? Ehrlich gesagt: Ich versuche, jede Person von innen heraus zu verstehen, die in jenem Bereich existiert, den ich – auch an seinen extremsten Rändern – noch als menschlich wahrnehme. Wenn ich aber meine, jemand habe sich aus dem Bereich des Menschlichen entfernt, dann wird er unwichtig für mich, und ich verspüre keinerlei Wunsch, seinen Werdegang zu entschlüsseln.

In welche Menschen ich mich nicht eindenken will

In meinem Buch „Stichwort: Liebe“ beschreibe ich einen Nazi-Offizier. Bei der Arbeit an dieser Figur habe ich sehr gelitten, wollte aber dennoch wissen, wie aus einer normal-vernünftigen Person ein Nazi wird. Welche Schritte führen jemanden – oder in manchen Fällen eine ganze Nation – aus der Normalität ins nazistische Unheil? Dieser wichtigen Frage wollte ich auf den Grund gehen, um mich selbst vor solchem Übel zu schützen. Ein IS-Kämpfer jedoch oder ein Hamas-Mörder, der am 7. Oktober schwangere Frauen aufschlitzte und Babys schlachtete, hat sich meiner Ansicht nach aus dem Bereich des Menschlichen entfernt. Gestalten dieser Art sind für mich nicht relevant. Die meisten Konflikte in unserer Welt werden weniger extrem ausgetragen. Die innere Entwicklung der Involvierten dürfte jeden „vernünftigen“ Menschen interessieren, und ich möchte sie sehr wohl nachverfolgen.

Im Talmud steht der Satz: „Keine Freude ist größer als die der Befreiung vom Zweifel.“ Das heißt, wenn ein Mensch irgendeinen Zweifel hegt, dann wird dieser Zweifel an ihm nagen, ihn untergraben und sich Teile seiner Persönlichkeit aneignen. Ich selbst möchte hinzusetzen: „Keine Freude ist größer als die der Befreiung vom Stereotyp.“ Es gibt keine Freude wie die, die ein Mensch empfindet, wenn eine bestimmte Person oder Gruppe sich plötzlich aus der klischeehaften Wahrnehmung, in die er sie gezwängt hatte, herauslöst, wenn sie vor seinen Augen komplexer und reicher wird. Dann wird auch der Platz in seinem Bewusstsein, an dem er sie gefangen hielt, befreit und gehört wieder ihm selbst.

Was den Kriegszustand verändern kann

Solche Schritte könnten einen Prozess einleiten, der zur Veränderung des Kriegszustands führt, in dem Israelis und Palästinenser sich seit Jahrzehnten gegenseitig peinigen. Ich glaube, dass nur ein Bewusstseinswandel beiden Seiten ein Leben beschert, das die Chance auf einen Frieden birgt, auf eine Zukunft, auf die Formulierung einer toleranten Weltsicht, die es jedem gestattet, seine Geschichte zu erzählen.

Eingangs hatte ich festgestellt, es sei anmaßend, dem reichen Diskurs über Heinrich Heine noch etwas hinzufügen zu wollen, doch während des Schreibens verstärkte sich die Ahnung, das Werk dieses couragierten Mannes könne für uns auch heute noch eine Inspiration sein. Natürlich ist jeder Mensch auf seine Art einmalig, doch in der Begegnung mit Heinrich Heine spüren wir eine Größe wie keine andere. Sie blitzt uns aus all seinen Schriften und Gedichten entgegen. Sie zeigt sich auch in seinem Mut, sich selbst zu hinterfragen und zu verändern und damit alles, was sein großer, freier Geist einmal berührt hat, abermals zu erschaffen.

Aus dem Hebräischen von Helene Seidler.

David Grossman, geboren 1954 in Jerusalem, ist Schriftsteller. Er hielt diese Rede am vergangenen Samstag als Dank für die Verleihung des Heinrich-Heine-Preises in Düsseldorf.

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