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Die verstörende Welt der Evangelikalen | ABC-Z

Ein Mann mit Popstarallüren predigt, umgeben von großen, rot leuchtenden Kreuzen. Vor der Bühne stehen Teenager und junge Erwachsene, verbunden durch den Glauben, sie heben wie im Taumel die Arme und rufen laut „Amen“. Sie alle leben in Familien, in denen patriarchale Strukturen wie aus einem anderen Jahrhundert gelebt werden, in denen die Töchter keusch bis zur Ehe mit einem Mann aus der Gemeinde bleiben müssen und in denen Homosexualität als „sexuelle Missprägung“ gilt.

In ihrem Kinodebüt „Gotteskinder“ erzählt die 1984 in Kassel geborene Regisseurin Frauke Lodders von einer Familie, die in einer streng evangelikalen Freikirche lebt. Der Film nimmt die Perspektive der Geschwister Hannah (Flora Li Thiemann) und Timotheus (Serafin Mishiev) ein, deren Erwachsenwerden mit den fundamentalistischen Werten kollidiert. Hannah, die in einem Kurs anderen erklärt, warum Sex vor der Ehe falsch ist und von Gott abbringt, kommt dem neuen Nachbarn Max (Michelangelo Fortuzzi als punkiger Lars-Eidinger-Wiedergänger) näher – ein Problem auch, weil der nicht zur Gemeinde gehört. Ihr Bruder ist schwul und geht später in eine Konversionstherapie. Sie beide sind, das macht „Gotteskinder“ besonders tragisch, ihrem Glauben ergeben und suchen die Fehler bei sich.

Frauke LoddersFabian Schmalenbach

Dass es solche strengen evangelikalen Gemeinden in Deutschland gibt, ist kein Geheimnis. Und doch rückt Lodders mit ihrem Film, der jetzt im Cinéma Frankfurt Premiere feiert und am 30. Januar in den Kinos startet, ein Sujet in den Fokus, das man eher mit fundamentalistisch-christlichen Landstrichen in den Vereinigten Staaten in Verbindung bringen würde.

Kein Wunder, dass eine wichtige Inspirationsquelle zum Film auch in den USA lag, in dem Dokumentarfilm „Virgin Tales“ von Mirjam von Arx. „Darin geht es um die evangelikale Familie in den USA, die die Purity Balls erfunden hat“ sagt Lodders im Gespräch. Im Rahmen solcher Keuschheitsbälle geloben Väter vor Gott, alles zu tun, damit ihre Töchter bis zur Ehe keusch bleiben, und diese unterschreiben das als Zeuginnen – eine Zeremonie, die auch in „Gotteskinder“ eine Rolle spielt und verstört.

„Der Film von Mirjam von Arx folgt der Familie auf Augenhöhe, aber man merkt, dass das harmonische Zusammenleben nur so funktioniert, weil alle in der Familie funktionieren“, so Lodders. Ihr Ausgangspunkt sei die Frage gewesen: Was passiert, wenn irgendwer aus der Familie plötzlich nicht mehr in das strenge Wertesystem hineinpasst?

Das System verstehen

Um zu verstehen, wie dieses System funktioniert, hat sich die Regisseurin in einer intensiven Recherchephase inkognito in fundamentalistische Gemeinden begeben. Ein Bekannter wiederum vermittelte eine Journalistin, die ebenfalls in der Szene unterwegs war und Morddrohungen erhalten habe. Über jene Journalistin und weitere Ecken ist Lodders schließlich an einen Szene-Aussteiger geraten, der sie bei „Gotteskinder“ beratend begleitet hat.

Während der Recherchezeit war die Regisseurin mit einem Freund bei mehreren „Holy Spirit Nights“, hat Gottesdienste besucht und war mit einer ausgedachten Geschichte mit mehreren sich so bezeichnenden „Therapeuten“ in Kontakt. Ein solcher „Therapeut“ kommt auch im Film vor und versucht Timotheus mit höchst dubiosen Methoden davon zu überzeugen, dass seine sexuelle Orientierung reine Kopfsache und eine vom Teufel eingeredete Sünde sei.

Die Szenen, in denen „Gotteskinder“ Gruppen- und Einzeltherapien zeigt, sind schwer zu ertragen. „Alles, was dieser Doktor Schäfer im Film sagt, hat der reale Therapeut gesagt und sogar noch Schlimmeres“, so Lodders. Das aber sei im Film nicht mehr glaubhaft zu vermitteln gewesen.

Hermetischer Mikrokosmos

Das „Seelsorgecamp“, wie das Konversionscamp euphemistisch heißt, weckt auch Erinnerungen an Joel Edgertons Drama „Der verlorene Sohn“ von 2018, das auf den Memoiren von Garrard Conley beruht. Mit Conley, der 1985 in Arkansas im Bible Belt geboren wurde, konnte Lodders sprechen, als er auf Lesereise in Deutschland war. Sie selbst sei „normal evangelisch“ aufgewachsen. „Ich bin an Weihnachten in die Kirche gegangen und wurde konfirmiert“ so Lodders, die gleich hinterherschiebt, dass sie im Zuge der Filmrecherche aus der Kirche ausgetreten sei.

Der Produzent ihres Films, Matthias Greving, selbst Sohn eines Pfarrers, habe ihr gesagt, dass in ihrem Film alles, was sonst am Glauben schön sei, benutzt werde, um Menschen zu manipulieren. Genau an solchen Abgrenzungen von fundamentalistischen Ansichten fehle es den Landeskirchen aber oft, sagt Lodders.

Mit „Gotteskinder“ hat die Regisseurin schon Preise gewonnen. Schon 2019 gab es den Hessischen Filmpreis für das Drehbuch, 2024 wurde ihr Film beim Filmfestival Max Ophüls Preis mit dem Preis der Jugendjury ausgezeichnet. Obwohl das Drama kein Jugendfilm ist, kam es auf vielen Festivals bei Jugendlichen gut an – beim Schlingel, dem internationalen Filmfestival für Kinder und junges Publikum, erhielt „Gotteskinder“ den Hauptpreis der Stadt Chemnitz. Ein Umstand, der Lodders freut, schließlich sei es ja darum gegangen, die Perspektive von Jugendlichen in einem hermetischen Mikrokosmos einzunehmen.

Vergleichsweise gute Filmförderung in Hessen

Der Mikrokosmos Familie zieht sich durch das bisherige Werk der Regisseurin. In ihrem Dokumentarfilmdebüt „Unzertrennlich“ thematisierte sie das Leben mit Behinderten oder lebensverkürzt erkrankten Geschwistern, in ihrem aktuellen Drehbuchprojekt, für das sie eine Förderung erhalten hat, geht es um Traumaverarbeitung nach einem Terroranschlag, auch im familiären Kontext.

„Es ist immer schwierig, in Deutschland einen Film zu machen“, sagt Lodders mit Blick auf die Fördersituation hierzulande und wohl wissend, dass Hessen vergleichsweise gut aufgestellt ist. 2017 hat sie mit Fabian Schmalenbach die Filmproduktion Jumping Cat gegründet, in Kassel, wo sie Visuelle Kommunikation mit Schwerpunkt Film und Fernsehen an der Kunsthochschule studiert hat.

Schon immer habe sie künstlerisch arbeiten wollen, ein Zufall habe sie in die richtige Richtung geschubst. Sie habe, so die Regisseurin, bei jemandem als Babysitter gejobbt, der in Kassel Regie studiert hat. Der habe immer Filme für sie ausgesucht, über die sie dann später diskutiert hätten. Auf diese Diskussionen folgte eine zweitägige Hospitanz an der Uni und schließlich das Studium. Aus der Zufallsbekanntschaft ist eine Regisseurin gewachsen, die jetzt mit einem gut recherchierten und nachdenklich stimmenden Film auf Kinotour geht.

■ Gotteskinder, Kinostart am 30. Januar.

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