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Hat die Scham die Seiten gewechselt? | ABC-Z

In Avignon steht ein Gerichtsverfahren gegen 51 Männer kurz vor dem Abschluss, das für weltweite Aufmerksamkeit gesorgt hat. Das liegt an der Monstrosität der angeklagten Taten, an der hohen Anzahl der Angeklagten – aber vor allem an der Geschädigten, die seit Beginn des Prozesses so aufrecht auftritt.

Gisèle Pelicot, 72 Jahre alt, wurde von ihrem mittlerweile geschiedenen Ehemann fast zehn Jahre lang mit Beruhigungsmitteln betäubt und vergewaltigt. Zudem bot der Rentner die Sedierte im Internet anderen Männern aus der Um­gebung zur Vergewaltigung an und filmte die Übergriffe. Im September 2020 stellten Polizisten Fotos und Videos von etwa 200 Taten, begangen durch ihn und rund 80 weitere Männer, bei Dominique Pelicot sicher. Als die bis dahin ahnungslose ­Gisèle davon erfuhr, erschien es ihr zunächst unmöglich, mit dieser Gewalterfahrung, dieser Herabwürdigung, diesem Verrat weiterzuleben.

Sie entschied sich, zu kämpfen

Doch die Mutter von drei Kindern, Großmutter von sechs Enkeln, beschloss, sich nicht das Leben zu nehmen und den Tätern damit einen Gefallen zu tun. Sie entschied sich, zu kämpfen.

Pelicot wählte eine so ungewöhnliche wie machtvolle Strategie – und bestimmte dadurch die Spielregeln des Prozesses mit. Während Vergewaltigungsopfer aus nachvollziehbaren Gründen (Schutz der Intimsphäre, Wahrung der oft mühsam zurückerkämpften Würde) fast immer den kompletten oder temporären Ausschluss der Öffentlichkeit aus dem Gerichtssaal beantragen, setzte die Französin auf die größtmögliche Offenheit. Sie bestand darauf, dass Journalisten und Besucher jeden einzelnen Prozesstag verfolgen und alle Videos sehen konnten. Das führte zur umfassenden internationalen Berichterstattung über den Prozess, die sonst nur zum Auftakt und zur Urteilsverkündung stattgefunden hätte. Und die Transparenz trug dazu bei, die bei anderen Vergewaltigungsprozessen regelhaft geäußerte Mutmaßung, das Opfer könne eine Mitverantwortung tragen, im Keim zu ersticken.

Zu Beginn des Prozesses hatte Pelicot den bereits jetzt berühmt gewordenen Satz gesagt: „Die Scham muss die Seiten wechseln.“ Ist das gelungen? Ich bin mir nicht sicher.

Keine Spur von Scham

Dass sich die Angeklagten schämen würden für ihre Taten, war nicht festzustellen. Außer Dominique Pelicot hat keiner von ihnen Verantwortung für die Verbrechen übernommen oder Reue gezeigt. Im Gegenteil: Sie versuchten, sich mit obskuren Begründungen herauszureden.

Doch auch unabhängig von den eigentlichen Tätern ist mir während des Prozessverlaufs etwas aufgefallen: In meinem persönlichen Umfeld waren ausschließlich Frauen von diesem unfassbaren Verbrechen aufgewühlt, das jede Vorstellungskraft sprengt. Bei keinem einzigen Mann, der mir nahesteht oder mit dem ich regelmäßig spreche, hatte ich das Gefühl, dass es ihn wirklich umtreiben würde, was Gisèle Pelicot angetan wurde. Weil Männer denken, dass es sie nicht betrifft, wenn sich auf ein paar Quadratkilometern im idyllischen Südfrankreich ein Querschnitt der männlichen Gesellschaft an einer narkotisierten Frau vergeht?

Was für ein Irrtum! Immer wieder wurde in den Berichten hervorgehoben, dass es sich um „normale“ Männer handelt. Doch ist es eine neue Erkenntnis, dass auch „normale“ Männer sexuell übergriffig sind?

Misogyne Gewalt ist weit verbreitet

Eigentlich sollten alle wissen, wie weit verbreitet misogyne Gewalt ist. Das beginnt schon damit, dass prominente Frauen es nach einem Fernsehauftritt bewusst vermeiden, ihre Social-Media-Kanäle zu checken. Politikerinnen berichten das, auch Journalistinnen und Schauspielerinnen. Politikerinnen berichten das, auch Journalistinnen und Schauspielerinnen. Zu ekelhaft sind die Kommentare, die sie dort erreichen – und die nichts damit zu tun haben, was die Frauen gesagt haben. ­Diese Kommentare werden von Männern geschrieben – von denen sich viele wahrscheinlich als „ganz normal“ bezeichnen würden.

Und es setzt sich in den zur Anzeige ­gebrachten Taten rund um Gewalt an Frauen fort. Das im November vorgestellte Bundeslagebild „Geschlechtsspezifisch gegen Frauen gerichtete Straftaten 2023“ listet 52.330 Sexualstraftaten an Frauen auf; hinzu kommen 180.715 weibliche Opfer im Deliktfeld der häuslichen Gewalt – und die Dunkelziffern sind hoch. Diese Zahlen zeigen, dass solche Übergriffe überall passieren, nicht nur in den schlecht ausgeleuchteten Ecken am Rande der Gesellschaft, verübt von Männern, denen man das Label „Perverser“ anheften kann.

Es ist an der Zeit, dass Männer diese Gewaltdimension auch in unseren westlichen Gesellschaften anerkennen und sich ihr stellen. Sie können es nicht den Frauen überlassen, sich für die eigene Sicher­heit einzusetzen, die durch Männer bedroht ist.

Noch vor Weihnachten soll der Prozess enden. Für Männer könnte dieses Urteil ein Auftakt sein: um mit Freunden, Bekannten, Kollegen, den eigenen Vätern und Söhnen ins Gespräch darüber zu kommen, dass nicht nur diejenigen ein Problem sind, die sexualisierte Gewalt gegen Frauen ausüben. Sondern auch diejenigen, die so tun, als gingen sie frauen­verachtende Aussagen und sonstige Übergriffe nichts an.

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