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„Wir konnten bis aufs Messer diskutieren“ | ABC-Z

Herr Generalsekretär, Spitzen-Sozialdemokraten verteidigen gerade leidenschaftlich den Koalitionsvertrag. Mehr Steuerung bei der Migration ist plötzlich möglich, genauso der Rückbau des Bürgergeldes. Tut Friedrich Merz der SPD gut?

Die Frage ist, was kann die SPD verantworten. Friedrich Merz ist jemand, den wir sehr kritisch im Wahlkampf beäugt haben, und es gibt weiter Kritik. Aber in den vergangenen Wochen ist ein Vertrauensverhältnis gewachsen. Und die SPD lässt in dieser Koalition sehr wohl eine eigene Handschrift erkennen. Deswegen können wir aus tiefer Überzeugung für diesen Koalitionsvertrag werben. Die Jusos kritisieren den Vertrag ja jetzt, aber deren Vorsitzender hat die WG-Garantie selbst hineinverhandelt. Das sollten wir nicht aufs Spiel setzen. Was wir bei der Migration vereinbart haben, tut einigen Leuten in der Partei weh. Aber Anspruch weiter Teile der Partei und in der Bevölkerung ist auch, die irreguläre Migration weiter zu steuern.

Hat das von Ihnen angesprochene Vertrauensverhältnis durch die Debatte zum Mindestlohn und zur Normalisierung der AfD gelitten?

Es ist legitim darauf hinzuweisen, dass wir von unterschiedlichen Positionen kommen. Aber Friedrich Merz hat klar gemacht, dass wir von 15 Euro Mindestlohn ausgehen. Und das ist die gemeinsame Basis. Bei der AfD hat Merz in den Verhandlungen immer sehr, sehr deutlich gemacht, dass es keinerlei Kooperation geben kann. Deswegen ist das, was Jens Spahn geäußert hat, meines Erachtens überhaupt nicht kompatibel mit den Vereinbarungen, die wir in der Spitzengruppe getroffen haben. Da braucht es eine Debatte in der CDU/CSU. Und ich nehme wahr, dass diese bereits geführt wird.

Das schlechte Ergebnis bei der Bundestagswahl hat der SPD einen Realitätsknall verpasst. Wie finden Sie das?

Jedes Ding hat seine zwei Seiten. Es war eine historische Niederlage, die uns allen wehtut. Daraus jetzt in einen Gesundungsprozess zu gehen ist wichtig. Unter meiner Leitung arbeitet eine Kommission das jetzt auf, mit hoffentlich einer ersten Beschlussgrundlage für den Parteitag Ende Juni. Deswegen ist es gut, dass wir nicht in Lethargie verfallen. Wir müssen uns verändern. Etwa bei der Frage, wie wir Demokratie im Social-Media-Zeitalter gestalten.

Und welche Rolle spielt die Personalfrage? Ein guter Wahlkampf braucht einen guten Kandidaten.

Es geht um die Partei, das Programm und die Person. Das ist wesentliche Lehre aus der Wahl. Und ich erinnere an Hamburg: Hier hat die SPD kurz nach der Bundestagswahl haushoch gewonnen. Die SPD kann also Wahlen gewinnen, wenn Partei, Programm und Person überzeugen.

Jetzt zu sagen, es wäre anders gelaufen, würde ich als Anmaßung sehen. Es hätte ja auch in eine noch negativere Richtung gehen können, wenn die SPD den amtierenden Kanzler nicht nominiert hätte.

Sie waren zuvor einer der Sprecher der Parlamentarischen Linken (PL). Was glauben Sie, wie hätten Sie in dieser Rolle den Koalitionsvertrag bewertet? PL-Sprecherin Wiebke Esdar ist ja noch unentschieden.

Die PL hat in den vergangenen Jahren massiv dafür geworben, die Schuldenbremse zu reformieren. Dass wir einen handlungsfähigen Staat bekommen. Vor dem Hintergrund sind das 500-Milliarden Euro-Sondervermögen für Infrastruktur und Klimaschutz sowie die Schuldenbremsenreform ein gewaltiger Erfolg. Ich, der gegen die Einführung der Schuldenbremse votiert hat, kann alleine deshalb dem Vertrag zustimmen, gerade auch als PL-Sprecher. Ich bin mir sicher, dass sich die PL hinter diesen Koalitionsvertrag stellen wird.

Die Mehrheit der Mitglieder wird also für den Koalitionsvertrag stimmen?

Welche Rolle spielt bei der Aufarbeitung die Frage, mit welcher Politik nicht nur Parteimitglieder erreicht werden können, sondern auch ehemalige SPD-Wähler?

Das wird eine entscheidende Frage sein zur Zukunft der SPD. Wir werden die Empathie haben müssen, um nach den Sorgen der Bürger zu fragen. Und die sind in der Gesellschaft sehr unterschiedlich. Wer heute Arbeiter ist, lässt sich nicht mehr mit einem Satz beantworten. Für mich ist deswegen die Frage: Was ist die große Erzählung? Wofür steht die SPD? Mein Ziel ist es, dass wir für einen Sicherheitsbegriff im umfassenden Sinne stehen. Wenn du krank wirst oder älter, lässt dich der Staat nicht allein. Und gleichzeitig müssen wir für die jungen Menschen etwas tun: Klimaschutz, gut bezahlte Arbeitsplätze, ein bezahlbares Leben. Das ist die Aufgabe einer Volkspartei.

Aber hat das Olaf Scholz nicht versucht, als er versprach „You‘ll never walk alone“? Und hatten die Bürger nicht vielmehr eine Sehnsucht nach der ehrlichen Kommunikation von Zumutungen?

Es war genau richtig, was Olaf Scholz gesagt hat. Wir haben dann ja zum Beispiel die Energiepreisbremse eingeführt und den größten Energiepreisschock abgefedert. Leider hat der Ampel-Streit das alles überlagert. Und es ist doch nicht so, dass wir nicht über Zumutungen reden: Wir haben etwa beschlossen, dass eine Kommission sich mit der Reform des Gesundheitssystems beschäftigen wird. Karl Lauterbach hat schon damit angefangen. Krankenhäuser müssen schließen. Das sind harte Entscheidungen und natürlich auch Zumutungen. Was aber nicht geht, sind nur Leistungskürzungen. Da mache ich nicht mit. Für den sozialdemokratischen Geist ist der Zusammenhalt die oberste Maxime. Und generell müssen wir uns die Frage stellen, was ist Regierungshandeln, und was ist SPD pur? Da haben wir in der Vergangenheit vielleicht an einigen Stellen zu viel Regierungspolitik vertreten. Und nicht die Vision, die eine Partei haben muss.

Sie sind ja ein Politiker mit Prinzipien. Sowas führt in einer Koalition schnell mal zu Streit. Welchen Umgang erwarten Sie von den künftigen Koalitionären?

Ich wünsche mir, dass wir so lange wie möglich intern diskutieren und versuchen, zu einem Kompromiss zu kommen. Das war mir das Wichtigste in den vergangenen Wochen. Sowohl bei Friedrich Merz, Markus Söder, Alexander Dobrindt und Thorsten Frei, die uns in der Endverhandlungsrunde gegenübersaßen, konnten wir bis aufs Messer diskutieren, aber dann gab es den Geist, dass wir es gemeinsam lösen müssen. Mir bereitet Sorgen, dass an vielen Stellen in der Gesellschaft, auch bei Interessensgruppen, der Kompromiss nicht mehr wertgeschätzt wird. Müssen wir erst ganz tief fallen, um den Wert von Demokratie und Kompromissfähigkeit wertschätzen zu können? Oder schaffen wir es durch ein ruhiges und sinnvolles Regierungshandeln, die Akzeptanz zu bekommen?

Die bisherige Strategie der kompletten Ausgrenzung der AfD, auch von jeglichen Bundestagsposten, hat die AfD nicht schrumpfen lassen, ganz im Gegenteil. Welche Schlüsse ziehen Sie daraus?

Es ist alarmierend, was passiert. Man darf nicht einfach sagen, Rechtspopulisten und Rechtsextreme werden eben in vielen Ländern stärker, das ist jetzt halt so. Das reicht mir nicht. Die AfD ist im Parlament, wir setzen uns mit ihr auseinander, ob wir wollen oder nicht. Mit Blick auf die Posten, kann mich niemand zwingen, aus freien Stücken einen AfD-Kandidaten zu wählen: Ich nehme mein parlamentarisches Recht wahr und entscheide, ob eine Person als Bundestagsvizepräsident geeignet ist oder nicht. Das ist für mich keine Form der Ausgrenzung, sondern Demokratie. Alle Gerichte bestätigen im Übrigen meine Haltung.

Halten Sie es für politisch geboten, AfD-Politiker zu Ausschussvorsitzenden zu wählen?

Nein. Wir haben das Recht, die Person zu beurteilen, es gibt kein Recht auf Wahl. Der Kandidat verdient es, dass man sich ihn genau anguckt und dann zu einem Schluss kommt. Meine Erfahrung mit Herrn Brandner, der als Vorsitzender des Rechtsausschusses gewählt wurde und dass dann kolossal missbraucht hat, stärkt da nicht das Vertrauen.

Erwarten Sie, dass der Fraktionsvorsitzende Lars Klingbeil eine Ansage macht an die SPD-Abgeordneten?

Es ist keine Ansage notwendig. Wir haben in der Fraktion eine klare Haltung dazu. Wir schauen uns an, wer da kandidiert.

Sie schließen so eine Wahl auch nicht aus, wenn die Person passen sollte?

Ich kann mir das überhaupt nicht vorstellen.

Ist ein AfD-Verbotsverfahren wegen der Stärke der Partei gerade jetzt geboten oder aus demselben Grund faktisch unmöglich?

Die Frage eines Parteiverbots darf sich nie allein an der Stärke einer Partei orientieren, sondern an ihrer Verfassungsfeindlichkeit. Entscheidend ist, ob die AfD aktiv und gezielt gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung arbeitet – und ob sie das Potential hat, diese Ziele auch umzusetzen. Wir warten auf das angekündigte Gutachten des Verfassungsschutzes. Sollte dieses zu dem Schluss kommen, dass die AfD gesichert rechtsextrem ist und eine konkrete Gefahr für unser demokratisches Gemeinwesen darstellt, dann wäre das ein starkes Signal. Auf dieser Grundlage könnte ein Verbotsverfahren ernsthaft geprüft und gegebenenfalls eingeleitet werden.

Sie und andere in der SPD haben die Union oft scharf kritisiert für deren Umgang mit der AfD. Sollten Sie sich aber nicht ein gemeinsames Vorgehen mit der Union überlegen? Immerhin ist die Union zumindest in Teilen Deutschlands das letzte Bollwerk gegen die AfD, nicht die SPD?

Das fand ich in der Spitzenrunde der Verhandler sehr klar. Es kann keine Kooperation geben. Das war für mich ein Schlüsselmoment. Aber es gibt, nicht in der ersten Reihe, Personen, die das anders sehen. Friedrich Merz und Markus Söder ziehen da eine klare Grenze.

Jens Spahn sortieren Sie nicht in die erste Reihe ein?

Mich machen die Äußerungen von Jens Spahn sehr nachdenklich. Er weiß ganz genau, was er tut. Ich sehe sein Agieren sehr kritisch.

Welche Eigenschaften, die Olaf Scholz als Bundeskanzler hatte, wünschen Sie sich auch bei Friedrich Merz?

Das Maß an Besonnenheit. Gerade in internationalen Situationen hat Olaf Scholz dem Druck standgehalten. Das wünsche ich Friedrich Merz, dass er diese Ruhe weitertragen kann in diesem Amt. Das ist nicht einfach.

Und welche Eigenschaften wären ein Bonus von Merz?

Er hat eine Menge politische Erfahrung, kennt aber auch die Wirtschaftsseite. Diese Kombination kann ihm an einigen Stellen sehr helfen.

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