Wirtschaft

Handelskammer: „Die Dimension dieser krisenhaften Situation haben wir vielleicht noch nicht erkannt“ | ABC-Z

Hamburgs Wirtschaft muss sich deutlich enger mit anderen Teilen der Welt vernetzen, etwa mit Zentralasien – auch, um die Folgen künftiger Handelskonflikte zwischen den USA, China und Europa besser abfedern zu können, sagt Norbert Aust, Präses der Handelskammer Hamburg.

Nur wenige Menschen in Hamburg dürften in ihrem Berufsleben so viele Erfahrungen im Wissenschaftsbetrieb, als Unternehmer und in Verbänden gesammelt haben wie Norbert Aust. Seit 2020 führt der 81-Jährige als Präses die Handelskammer Hamburg. Seine erste, vierjährige Amtszeit war vor allem von der Pandemie geprägt. Inzwischen beeinflussen viele internationale Krisen, etwa Russlands Krieg gegen die Ukraine, die städtische Wirtschaft und Politik. Im Sommerinterview mit WELT AM SONNTAG – geführt auf der Dachterrasse des Verlags Axel Springer – benennt Aust die Chancen, die Hamburg in dieser diffusen Zeit nutzen könnte und sollte.

WELT AM SONNTAG: Herr Aust, Europa steht in einem weltweiten Konkurrenzkampf und muss dabei zunehmend unter dem Druck von Populisten agieren. Hamburg als starker und reicher Stadtstaat ist wiederum mit der Welt eng verbunden. Trägt die Hansestadt genug zu einem demokratischen und gerechten Europa bei?

Norbert Aust: Auf jeden Fall müssen wir mehr tun. Dazu müssen wir hier in der Stadt aber erst einmal erkennen, dass wir in einer krisenhaften Situation sind, die durchaus auf einen Handelskrieg zwischen den USA, Europa und China hinauslaufen kann. Die Dimension, die das hat, haben wir vielleicht noch nicht richtig erkannt. Ich glaube zum Beispiel nicht, dass sich China Strafzölle der Europäischen Union auf Elektroautos gefallen lassen wird. Und wie wollen wir mit Indien umgehen? Wir sehen in der Kammer, was droht, wenn es zu einem neuen Protektionismus kommt. Wir können Außenhandel letztlich nicht nur mit Freunden betreiben. Und wir müssen auch nach neuen Partnern Ausschau halten.

WELT AM SONNTAG: Welche neuen Partnerländer könnten das aus Ihrer Sicht sein?

Aust: Den Handel mit Japan und Lateinamerika könnten wir deutlich ausbauen. Europa, Deutschland und Hamburg könnten auch ihre Handelsverbindungen mit den zentralasiatische Staaten wie Aserbaidschan, Kasachstan, Usbekistan oder Tadschikistan vertiefen. Das sind junge Staaten, deren politisches System sich noch entwickelt. Aber diese Staaten wollen sich als frühere Sowjetrepubliken von Russland emanzipieren. Sie suchen die Partnerschaft mit uns.

WELT AM SONNTAG: Kann Hamburg mehr Impulse zur Stärkung der EU senden?

Aust: Hamburg ist wie ein Brennglas für die Außenwirtschaft. Die Auswirkungen internationaler Krisen oder neuer Regularien lassen sich bei uns sehr schnell und deutlich ablesen. Das ist ein guter Gradmesser für alle europäischen Partner. Außerdem haben wir uns zum Kammergeburtstag im Januar bei einer Klimakonferenz in der Handelskammer mit EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen ausgetauscht. Und wir haben unsere Konzepte im Dezember bei der Welt-Klimakonferenz in Dubai vorgestellt. Solche internationalen Vernetzungen wollen wir weiter ausbauen.

WELT AM SONNTAG: Hamburg ist eine reiche und mitunter auch saturierte Stadt. Erschwert das manchen nötigen Wandel?

Aust: Wenn man glaubt, dass man alles hat, was man braucht, kann das auch dazu führen, viel zu verlieren. Wir müssen unsere attraktive, lebenswerte Stadt sichern und weiterentwickeln. Entscheidender Faktor ist der wirtschaftliche Erfolg. Klimaschutz ist dabei übrigens kein altruistisches Projekt. Wir wollen als Hamburger Wirtschaft mit guten Produkten und Dienstleistungen für den Klimaschutz gutes Geld verdienen.

WELT AM SONNTAG: Falls Donald Trump wieder US-Präsident wird – wie kann sich die EU etwa beim Klimaschutz weiter von den Vereinigten Staaten emanzipieren?

Aust: Weder die USA noch China oder andere Staaten werden darum herumkommen, sich mit dem Klimawandel stärker zu befassen. Wir in Europa können Vorreiter sein und Lösungen anbieten – die auch die USA oder andere Länder in Zukunft brauchen werden.

WELT AM SONNTAG: Wie nehmen Sie, mit Ihren unbestritten vielen Antennen in die Hamburger Stadtgesellschaft hinein, deren Entwicklung war?

Aust: Hamburg entwickelt sich als Stadt und als Bundesland gesünder als andere, vergleichbare Metropolen. Wir haben hier viele Chancen, allerdings reden wir manche Erfolge auch klein. Wir können die anstehenden Probleme in der Stadt aber nur lösen, wenn alle an einem Strang ziehen, nicht nur Politik und Wirtschaft. Die Handelskammer hat sich zum Beispiel sehr früh für einen Runden Tisch zur Stärkung der Innenstadt eingesetzt. Als Gesamtvertretung von rund 180.000 Unternehmen hat die Handelskammer sehr viel Potenzial. Beim Thema Klimaschutz wiederum konnten wir mit unseren ehrgeizigen Konzepten und Zielen bislang nur so weit kommen, weil unsere Mitgliedsunternehmen das so wollen. Wir müssen aber noch enger mit dem Senat, mit der Hamburgischen Bürgerschaft und anderen gesellschaftlichen und politischen Kräften in der Stadt kooperieren.

WELT AM SONNTAG: Die extrem kontroverse Debatte um einen Einstieg der weltgrößten Reederei MSC beim Hafenlogistik-Konzern HHLA hat allerdings auch deutlich gemacht, wie tief gespalten die öffentliche Meinung in der Stadt zur Zukunft des Hafens ist.

Aust: Bei der Entwicklung des Hafens gibt es seit einiger Zeit sicher eine Blockadesituation. Die muss man gemeinsam mit allen Beteiligten auflösen – mit ganz neuen Ansätzen, zum Beispiel dadurch, dass im mittleren Hafenbereich auf Steinwerder neue Flächen geschaffen und diese für Innovationen und eine effiziente Hafenwirtschaft entwickelt werden. Das ist der Vorschlag der Handelskammer, um gemeinsam mit den Unternehmen neue Potenziale für den Hafen zu erschließen. Dort könnten unter anderem auch für Hamburg ganz neue Akteure angesiedelt werden, um den Wettbewerb zu beleben.

WELT AM SONNTAG: Verliert Hamburg grundsätzlich sein Gefühl für den Hafen?

Aust: Es ist menschlich, dass sich über eine lange Zeit Gewohnheiten festsetzen – vielleicht ist dies auch in Teilen der Hafenwirtschaft so. Mitunter erscheint es ja einfacher umzuziehen, als die Wohnung mal gründlich aufzuräumen. Uns fehlt im Hafenentwicklungsplan des Senats eine Vision für den gesamten Hafen, um die Potenziale zu heben.

WELT AM SONNTAG: Welche neuen Wirtschaftszweige könnten in Hamburg Erfolg haben?

Aust: Der Weg führt nur über Innovationen, die etwa durch Sonderinnovationszonen, wie von uns gefordert, ermöglicht werden müssen. Die Energiewende und die erneuerbaren Energien bieten dafür ein riesiges Potenzial. Der Energiekonzern Shell hat zwar seine konzernweite Forschungs- und Entwicklungsabteilung für Elektromobilität und saubere Kraftstoffe in Hamburg, ist aber aus dem Projekt für eine große Wasserstoff-Elektrolyse am Standort des Kraftwerks Moorburg ausgestiegen und hat stattdessen in ein noch größeres Elektrolyse-Projekt im Hafen von Rotterdam investiert. War Hamburg hier vielleicht nicht gründlich oder ehrgeizig genug, um Shell in dem Projekt zu halten?

WELT AM SONNTAG: Die Frage kann man stellen. Und welche positiven Beispiele gibt es?

Aust: Der geplante Bau der großen Batteriefabrik von Northvolt in Heide wird die Wirtschaft in der gesamten Metropolregion Hamburg beleben, auch in Hamburg selbst. Wichtig ist dafür allerdings der Ausbau der Infrastruktur, speziell der Bahnverbindung zwischen Hamburg und Heide. Und weil wir bei den Verkehrswegen sind: Die neue Fehmarnbeltquerung, die zum Ende des Jahrzehnts fertiggestellt sein soll, wird ganz Norddeutschland – in der Verbindung mit Dänemark und Schweden – ebenfalls große wirtschaftliche Chancen bieten. Die müssen wir ergreifen.

WELT AM SONNTAG: Die Handelskammer sähe es gern, wenn die Netzwerke der Hamburger Branchen, die sogenannten Cluster etwa für Logistik oder Luftfahrt, anders aufgestellt wären. Warum?

Aust: Zum einen ist die Stadt im Management der Cluster sehr stark vertreten. Diese Netzwerke sind damit in ihrer Wirkung vielleicht nicht ganz so frei, wie es nötig wäre. In anderen innovativen Regionen ist das nicht so. Zum anderen: Wir entwickeln gerade für die Handelskammer eine neue Strategie, um viel stärker als bislang interdisziplinär zwischen den einzelnen Branchen zu arbeiten und gemeinsam neue Lösungen und Innovationen zu finden und hervorzubringen. Das brauchen wir auch in der Hamburger Wirtschafts- und Innovationspolitik. Isoliertes Denken und Handeln in separaten Branchen ist längst nicht mehr zeitgemäß, weder beim Klimaschutz, noch bei der Energieversorgung oder beim Umgang mit künstlicher Intelligenz. Andere Metropolen sind dabei zum Teil weiter als Hamburg.

WELT AM SONNTAG: Sind die Schnittstellen zwischen Wirtschaft und Wissenschaft in Hamburg gut genug entwickelt?

Aust: Die Wirtschaft in Hamburg hat das Verhältnis zu Hochschulen und Wissenschaft in den vergangenen Jahren erheblich verbessert. Das sieht man auch daran, dass der erste Zukunftspreis der Hamburger Wirtschaft 2022 an das Forschungszentrum DESY in Bahrenfeld vergeben wurde. Ein anderes Beispiel ist die Entwicklung des ersten Hamburger Quantencomputers beim Halbleiterhersteller NXP in Lokstedt, gemeinsam mit anderen Partnern aus Wirtschaft und Wissenschaft wie dem Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt. NXP hat den Zukunftspreis der Hamburger Wirtschaft 2023 erhalten.

WELT AM SONNTAG: Wirtschaftssenatorin Melanie Leonhard ist seit Ende 2022 – als Hamburger Co-Chefin der SPD – nach drei parteilosen Senatoren die erste Chefin der Wirtschaftsbehörde und zudem eine Frau mit starker politischer Hausmacht. Was bedeutet das für die Hamburger Wirtschaft?

Aust: Das Pendel schlägt damit zurück von politisch eher unabhängigen Personen wieder stärker in Richtung der Parteipolitik. Die Wirtschaft in Hamburg braucht den demokratischen Rückhalt von Politik, Bürgerschaft und Senat. Nur so kann die Wirtschaft erfolgreich arbeiten und den Mehrwert schaffen, den unsere Stadt braucht.

WELT AM SONNTAG: Der rot-grüne Senat will – gegen den Widerstand der Opposition in der Bürgerschaft und der Arbeitnehmer im Hafen –, eine Beteiligung von MSC von bis zu 49,9 Prozent an der HHLA durchsetzen, um die Stagnation des Hafens zu überwinden. Halten Sie die geplante Transaktion für richtig?

Aust: Ein Unternehmen von außen am Hamburger Hafengeschäft zu beteiligen, kann zu mehr Wettbewerb führen. Ob es die richtige Entscheidung ist, das in dieser Form mit MSC zu tun, oder ob es besser gewesen wäre, ein Konsortium zu bilden, will ich hier nicht beurteilen. Die Entscheidung ist gefallen, und ein Unternehmer blickt nicht zurück. Jedes Vorhaben des Senats muss immer im Gesamtinteresse Hamburgs sein.

WELT AM SONNTAG: Was wünscht sich die Hamburger Wirtschaft mit Blick auf die Bundestagswahl und die Bürgerschaftswahl in Hamburg im kommenden Jahr?

Aust: Beide Wahlen werden letztlich durch Wirtschaftsthemen entschieden werden. Wir brauchen tragfähige Lösungen, Konzepte und Handlungsweisen, wir brauchen Klarheit, aber keine Vernebelung von Problemen. Das gilt für den gesellschaftlichen Zusammenhalt auf wirtschaftlicher Basis, für die Industrie, für den Außenhandel und auch für alle anderen Bereiche. Wir brauchen mehr Räume für Unternehmen zum Experimentieren, ohne auf Genehmigungen warten zu müssen – Reallabore zum Beispiel für den Wohnungsbau. Neue Ansätze jedenfalls, um die ausufernde Bürokratie einzugrenzen.

WELT AM SONNTAG: Welche sind Ihre wichtigsten Ziele für Ihre zweite Amtszeit als Präses?

Aust: Wir entwickeln die Standortstrategie „Hamburg 2040: Wie wollen wir künftig leben – und wovon“ weiter. Wir wollen die Beteiligungsmöglichkeiten der Unternehmen in der Handelskammer erweitern. Wir stellen uns den neuen Krisen und Herausforderungen. Darauf wollen wir themenbezogen reagieren und nicht mehr so sehr branchenbezogen. Die größten Chancen liegen in den Schnittstellen. Das ist wie bei den torgefährlichen Pässen im Fußball.

Geboren 1943 im schlesischen Liebau, kam Norbert Aust in den 1960er-Jahren zum Studium nach Hamburg. Von 1980 bis 1992 war er Präsident der Hochschule für Wirtschaft und Politik (HWP), die 2005 in der Universität Hamburg aufging. Aust ist Mitbegründer und war lange Zeit Gesellschafter der Schmidt-Theater auf St. Pauli. Neben vielen anderen Funktionen war er auch Vorsitzender des Trägervereins für das Kulturzentrum Kampnagel. Von 2013 bis 2020 hatte er den Vorstandsvorsitz des Tourismusverbandes Hamburg inne. Seit April 2020 ist der verheiratete sechsfache Vater Präses der Handelskammer Hamburg. Seine Tochter Tessa Aust hatte 2017 die Geschäftsführung der Schmidts Tivoli GmbH übernommen.

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