Handarbeit: Warum jetzt im Kino gestrickt wird | ABC-Z

Stricken ist wieder in, sagen Trendforscher und begründen das mit einer „Gegenbewegung zum allgegenwärtigen Trend der Digitalisierung“: Generell boomt Handarbeit. Nur eine bestimmte Disziplin leidet seit der Pandemie.
Popcorn, Getränke – und dazu Stricknadeln und Wolle. Vielerorts ist das derzeit die Grundausstattung für einen Kinobesuch. Denn sogenanntes Strick-Kino boomt. „Du kannst stricken oder häkeln, während auf der Leinwand ein Film läuft“, wirbt etwa das Lichtspielhaus „Casablanca“ im niedersächsischen Oldenburg. Bei gedimmtem Licht im Saal könnten Gäste sowohl den Film als auch ihre Maschen sehen.
Der Trend, der in diesem Jahr hierzulande sowohl Metropolen als auch Kleinstädte erfasst hat, stammt aus Skandinavien. Gezeigt wird beim Strick-Kino leichte Kost, Wohlfühlfilme wie „Mamma Mia“, „Bridget Jones“ oder „Harry und Sally“. Schließlich soll alles gleichzeitig funktionieren: sich berieseln lassen, kreativ sein und Gemeinschaft erleben.
Die Zahl der Handarbeitsfans ist in Deutschland in den vergangenen Jahren stetig gestiegen, vor allem unter Frauen: 85 Prozent von ihnen haben sich 2024 zumindest gelegentlich mit Handarbeit beschäftigt, wie eine Umfrage des Marktforschers GfK im Auftrag des Branchenverbands Initiative Handarbeit ergab. Das sind sogar mehr als zu Corona-Zeiten, als Stricken, Nähen, Häkeln, Sticken und Co ihr Retro-Image ablegten und neue Begeisterung auslösten.
Eike Wenzel, Leiter des Instituts für Trend- und Zukunftsforschung in Heidelberg, sieht darin eine Gegenbewegung zum allgegenwärtigen Trend der Digitalisierung und Virtualisierung. Stricken etwa sei „Entschleunigung und Ent-Automatisierung“, sagt Wenzel. Statt des ständigen Zurschaustellens auf sozialen Medien wie TikTok oder Instagram tue man etwas, bei dem man „bei sich selbst bleibt“.
Zudem macht es schlicht Spaß – was der GfK-Erhebung zufolge das mit Abstand am häufigsten genannte Motiv für Handarbeit ist. Dahinter kommen Entspannung und der Wunsch, mit den Händen etwas Individuelles zu fertigen. Aber auch Nachhaltigkeit gewinnt als Grund an Bedeutung. „Handarbeit etabliert sich als kreativer Gegenentwurf zur Fast-Fashion-Mentalität“, meint Hedi Ehlen, Geschäftsführerin der Initiative Handarbeit. Vor allem bei Jüngeren würden Themen wie Reparatur und Upcycling – also die Wiederverwertung von eigentlich ausgedienten Gegenständen für neue Zwecke – an Bedeutung gewinnen.
Zwar liege das Durchschnittsalter bei der Handarbeit noch immer bei 55 plus. „Frauen zwischen 18 und 29 Jahren nähen, häkeln und stricken aber so viel wie nie“, sagt Ehlen. Und das sei für die Zukunft der Branche enorm wichtig. Zumal die Umsätze mit der gestiegenen Beliebtheit zuletzt nicht mehr Schritt gehalten haben: Die Konsumzurückhaltung und ein gestiegenes Preisbewusstsein der Verbraucher machen den Unternehmen zu schaffen. „Materialien werden nicht mehr in größeren Mengen auf Vorrat, sondern gezielt für ein Projekt ausgewählt“, so Geschäftsführerin Ehlen.
Lagen die Erlöse zu Endverbraucherpreisen 2020 noch bei fast 1,4 Milliarden Euro, waren es im vergangenen Jahr nur noch 961 Millionen, wie die Initiative Handarbeit meldet. Auch die Zahl der entsprechenden Fachgeschäfte sinke. Der Kurzwaren-Großhändler Veno schätzt den Rückgang sogar auf 30 Prozent seit Ende der Corona-Zeit.
Probleme hat dabei vor allem das Geschäftsfeld Nähen. Denn während Strick- und Häkelgarne stabile bis steigende Absatz- und Umsatzzahlen verzeichnen, auch 2024, hat sich das Geschäft mit Stoffen binnen vier Jahren mehr als halbiert. „Erklären lässt sich das mit der Rückkehr zur Normalität nach dem Ende der Pandemie“, sagt Expertin Ehlen.
Die Menschen seien wieder deutlich mehr unterwegs. Strick- oder Häkelprojekte könne man leicht mitnehmen und auf dem Weg ins Büro, auf Reisen oder eben beim Kinobesuch weiterführen, erklärt die Geschäftsführerin – die Nähmaschine dagegen nicht.
Dieser Artikel wurde für das Wirtschaftskompetenzzentrum von WELT und Business Insider erstellt.
Carsten Dierig ist Wirtschaftsredakteur in Düsseldorf. Er berichtet über Handel und Konsumgüter, Maschinenbau und die Stahlindustrie sowie Mittelstandsunternehmen.





















