Haile Gebrselassie: „Sie wollte ihren Ehemann erst kennenlernen, bevor sie von ihm schwanger wird“ | ABC-Z

Haile Gebrselassie war der beste und schnellste Marathonläufer der Welt, dekoriert mit etlichen Goldmedaillen. Heute hat der Äthiopier in seinen Unternehmen tausende Angestellte. Viel Geld investiert Gebrselassie in die Erziehung und Perspektiven von Jugendlichen. Ein Gespräch.
Haile Gebrselassie gilt als eine der größten Lauflegenden der Sportgeschichte. Der Äthiopier stellte insgesamt 26 Weltrekorde auf und gewann zweimal olympisches Gold sowie viermal den Weltmeistertitel über 10.000 Meter. Er prägte ein Jahrzehnt lang weltweit die Distanzen von 3.000 bis 10.000 Meter und war von 2007 bis 2011 Weltrekordhalter im Marathon. Heute hat der 52-Jährige tausende Angestellte und engagiert sich stark für soziale Projekte in seiner Heimat. Ein Gespräch.
Frage: Herr Gebrselassie, Sie zählen zu den größten Läufern aller Zeiten, stellten zweimal den Marathon-Weltrekord auf, sind Doppel-Olympiasieger. Erinnern Sie sich an Ihr erstes Rennen?
Haile Gebrselassie: Es war ein 1500-Meter-Rennen als Neuntklässler bei lokalen Schulmeisterschaften. Eigentlich war ich noch zu jung, und der Sportlehrer wollte mich nicht aufstellen. Doch ich flehte ihn an. Im Stadion hatte ich dann keine Ahnung, wie viele Runden ich laufen musste. Es wurde nur gesagt: Es gibt einen Startschuss und vor der letzten Runde eine Glocke.
Frage: Wie ging es aus?
Gebrselassie: Ich habe mich gleich vom Feld abgesetzt. Die anderen taktierten und dachten: Der wird schon einbrechen. Irgendwann kam die Glocke, und sie versuchten, mich einzuholen, doch ich war zu weit vorn und gewann.
Frage: Wie hoch war das Preisgeld?
Gebrselassie: Fünf Birr (heute etwa drei Cent; d. Red.). Als wir am Montagmorgen in der Schule beim Flaggehissen standen, wurde ich vom Direktor aufs Podium geholt und als Champion vorgestellt, der unsere Schule gut repräsentiert hatte. Vorher war ich ein Niemand. Danach kannten mich alle. So kam ich zur Leichtathletik.
Frage: Was wäre aus Ihnen ohne die Leichtathletik geworden? Ein Farmer wie Ihr Vater?
Gebrselassie: Bloß nicht! Ich wäre ein Tischler geworden, baute als Schüler Tische und Stühle. Nach meiner Kindheit habe ich die Farmarbeit gehasst. Irgendwie bin ich inzwischen doch ein Farmer geworden, baue Kaffee an. Aber wir setzen mehr Maschinen ein. Da habe ich zu Erntezeiten bis zu 2000 Mitarbeiter.
Frage: In welchen Branchen sind Sie noch Unternehmer?
Gebrselassie: Mein größtes Unternehmen sind die Hotel-Resorts mit fast 3000 Angestellten. Dazu kommen noch Fitnessstudios und Kinos. Außerdem bauen wir Autos für Hyundai zusammen. In Äthiopien dürfen nur noch E-Motoren eingeführt werden. Wir sind Vorreiter gegen Luftverschmutzung. Volkswagen ist unser härtester Konkurrent. Ich hasse sie! (lacht) Nur Spaß! Ich mag den Wettbewerb. Die machen auch gute Autos.
Frage: Sie engagieren sich für die Menschen in Äthiopien. Welche Probleme gibt es in Ihrer Heimat?
Gebrselassie: Durch die Waldrodung ist viel Land sehr trocken geworden. Da versuchen wir, mit „Menschen für Menschen“ (MFM) wieder aufzuforsten. Als ich vor 40 Jahren dort die Kühe und Schafe gehütet habe, war dort alles Wald. Riesige Akazienbäume. Jetzt gibt es nur noch Steine und Sand. Unglaublich! Hunger und Dürren sind sicher große Probleme, doch das Wichtigste ist, dass wir den Kindern eine Bildung ermöglichen. Ich bin MFM so dankbar, dass sie in Äthiopien Schulen bauen – und nicht nur in den Städten, sondern vor allem auf dem entlegenen Land, wo man mit dem Auto nicht hinkommt.
Frage: Wie profitieren die Kinder?
Gebrselassie: Die Jugendlichen lernen, wie sie sich selbst helfen können. Außerdem baut MFM Krankenhäuser, wo die Menschen unterstützt und versorgt werden. Viele Einwohner wissen nichts von Familienplanung. Plötzlich haben sie sieben, acht Kinder, und die Probleme gehen los. Ich war so stolz auf ein hübsches Mädchen, das ich getroffen habe. In der Klinik ließ sie sich ein Verhütungsstäbchen in den Oberarm einsetzen, obwohl es in ihrer Heimatregion verboten ist. Sie wollte ihren Ehemann erst kennenlernen, bevor sie von ihm schwanger wird. Sie hat die Kontrolle über ihr Leben übernommen.
Frage: Bauen Sie auch selbst Schulen?
Gebrselassie: Ich habe bereits zwei für 5000 Schüler gebaut, eine dritte wird im September neben meiner Kaffeefarm eröffnet. Die erste Schule ist im Norden. Dort fand der Unterricht vorher unter einem Baum statt. Ich habe es im Fernsehen gesehen und konnte es nicht glauben. Also rief ich dort an, und sie bestätigten es. Ich fuhr hin und entschloss mich, dort eine Schule zu bauen. Es sind zwei Häuserblöcke mit acht Klassen. Der Bau ist schwer: Man muss das Wasser von weit weg herantragen, um Beton zu machen. Als die Schule eröffnet wurde, kam das gesamte Dorf. Die zweite Schule baute ich, weil mich meine Frau dazu antrieb.
Frage: Sie gewannen viermal den Berlin-Marathon, brachen dort zweimal den Weltrekord. Welche Erinnerungen verbinden Sie mit der Stadt?
Gebrselassie: Berlin ist wie eine Heimatstadt für mich. Ich erinnere mich besonders an die Menschen an der Strecke, die mich anfeuerten. Unfassbar! Als ich durch das Brandenburger Tor lief, waren dort so viele Fans. Es fühlte sich wie ein Stadion an. Ach, Berlin!
Frage: Berlin arbeitet an einer Olympia-Bewerbung. Was halten Sie davon?
Gebrselassie: Berlin könnte auf jeden Fall Olympische Spiele ausrichten. Das wäre wunderbar für die Athleten, weil es eine großartige Stadt ist. Ich verspreche, dass ich Berlins Bewerbung unterstützen würde. Da gehe ich voran. München wäre auch in der Lage dazu.
Frage: Warum ist die Strecke in Berlin so schnell?
Gebrselassie: Die Strecke ist sehr flach und sauber. Im September spielt das Wetter so gut wie immer mit. Dazu kommen die Zuschauer, die dich vom Start bis zum Ziel unterstützen. Da gibt es eine echte Fankultur. Alles ist sehr professionell organisiert. Daher denke ich, dass der Weltrekord demnächst mal wieder in Berlin gebrochen wird.
Frage: Die Bestmarke liegt
Gebrselassie: aktuell bei 2:00:35 Stunden, gehalten vom 2024 gestorbenen Kelvin Kiptum († 24). Wie lange wird es dauern, bis die Zwei-Stunden-Marke geknackt wird?
Frage: Zehn, 15 Jahre?
Gebrselassie: Es wird schneller gehen! Vielleicht sind es noch zwei, drei Jahre. Dabei geht es nicht nur um die Leistung der Athleten, sondern auch die technische Weiterentwicklung der Schuhe, die Ernährung. Das sieht man auch bei den Frauen. Dort liegt der Weltrekord bei 2:09:56 Stunden. Das ist verrückt!
Frage: Wie schnell wären Sie zu besten Zeiten mit den Wunderschuhen gewesen?
Gebrselassie: Damit hätte ich die zwei Stunden bereits 2007 unterboten. Auf jeden Fall! Ich meine es ernst. 1999 lief ich auf dem Laufband bereits die 10.000 Meter in 26:10 Minuten (Der Weltrekord liegt heute bei 26:11, d. Red.).
Frage: Wie viel haben Sie damals trainiert?
Gebrselassie: Wenn ich heute das Training der anderen sehe, wirkt es eher entspannt: Aufwärmen, Stretching, eine Einheit und Schluss. Komm schon! Mein Training war so hart, als ob es um Leben und Tod gehen würde. Ich hatte an sechs Tagen je zwei Einheiten und sonntags noch eine. Meist bin ich 35 Kilometer pro Tag gelaufen, morgens 30, nachmittags fünf, ganz locker. Da kommen über 200 Kilometer pro Woche zusammen.
Frage: Wie oft laufen Sie heutzutage noch?
Gebrselassie: Ich laufe immer noch täglich, vielleicht sieben, acht Kilometer an Werktagen auf dem Laufband. Meist morgens um fünf. Ich muss vor der Arbeit einmal schwitzen. Das ist meine Medizin. An Wochenenden dann auch einmal draußen in der Natur, um die Luft der Eukalyptusbäume einzuatmen. Außerdem fahre ich Rad, auch im Fitnessstudio.
Frage: Mit welchem Prominenten würden Sie gern einmal laufen oder essen gehen?
Gebrselassie: Früher hätte ich Nelson Mandela gesagt, aber er ist leider schon verstorben. Jetzt fällt mir der US-Unternehmer Warren Buffett ein. Über ihn habe ich viel gelesen. Ich hätte so viele Fragen an ihn. Ich mag, wie er seine Geschäfte macht.
Frage: Wen halten Sie für den größten Läufer?
Gebrselassie: Für mich ist das Abebe Bikila, der 1960 barfuß den Olympia-Marathon in Rom gewann. Das ist unfassbar und verrückt. Er ist mein Held! Ich begann mit dem Laufen aber wegen Miruts Yifter, der 1980 in Moskau Gold über die 5000 und 10 000 Meter holte. Danach kamen noch viele große Athleten wie Kenenisa Bekele oder Eliud Kipchoge.
Der Text wurde für das Sport-Kompetenzcenter (WELT, SPORT BILD, BILD) erstellt und zuerst in SPORT BILD veröffentlicht.