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Gukesh vs. Ding Liren: Ich weiß, was zu tun ist | ABC-Z

Wenn nachmittags
um kurz vor fünf Gukesh schnellen Schrittes aus dem Hotelaufzug kommt, nicht
nach rechts schauend, nicht nach links, ist er schon in der zone, wie er
das nennt, in jenem Zustand des Fokussiertseins, der Schach-Entrücktheit, in
dem er nur noch eines kennt: den nächsten Zug, oder besser gesagt: die
Konzentration auf den nächsten Zug. Ganz hier zu sein, ganz da zu sein, das zählt in diesem Moment, der über seine sportliche Zukunft entscheidet wie kaum
ein Moment zuvor, denn es geht ja immer weiter nach oben, jedenfalls für ihn.

Mit 18 als indischer Teenager den chinesischen Schachweltmeister
herauszufordern vor einem Weltpublikum, wie irre ist das, wie schnell. Eben lag
er noch in den Windeln; mit sieben, kaum eingeschult, nahmen ihn seine Eltern
in Chennai mit zum Schach, sie hatten Tickets für eine Runde des
Weltmeisterschaftskampfes in seiner Heimatstadt, Anand gegen Carlsen, der Inder
gegen den Norweger.

Und jetzt
Singapur, seine Suite in der achten Etage des Equarius Hotels, die
Fahrstuhltür, die sich im Erdgeschoss öffnet, und die erregten Fans hinter der
Absperrung in der Lobby, deren Rufe von Tag zu Tag lauter werden, Gukesh,
Gukesh! Und dann skandieren sie etwas Anfeuerndes auf Tamil, das die
nicht indischen Reporter nicht verstehen, und dann klatschen sie, dann johlen
sie, Gukesh, Gukesh!

Gukesh
hört es nicht, er lächelt nicht, er braust durch die ihm freigehaltene Schneise
dem Ballsaal zu, der Bühne mit dem Schachtisch, an dem sein Opponent immer
schon sitzt: Ding Liren aus China, 32 Jahre alt.

Zehn
Runden liegen hinter ihnen an diesem Sonntagnachmittag. Seit zwei Wochen kämpfen
sie in Singapur, gewiss waren sie schon vorher da, akklimatisieren ist ja so
wichtig, um mit nichts mehr zu tun zu haben, wenn es ans Eigentliche geht, an
14 Runden gedanklichen Ringens, täglich drei, vier, fünf Stunden lang, auch
länger, wenn es sein muss, Tag um Tag um Tag, unterbrochen nur von
gelegentlichen Atempausen.

Ding hatte
gleich die erste Partie gewonnen, Gukesh sich in der dritten revanchiert.
Seitdem Remis, Remis, Remis, eine ganze Serie. Die neunte und die zehnte Runde
waren schon sehr ereignisarm. Man bekam das Gefühl, Ding will den Jungspund
auflaufen lassen, den Gleichstand bis in die 14. Runde halten, um ihn dann im
Stechen mit verkürzter Bedenkzeit zu erledigen. Ding, der intuitive
Schachkünstler, der, wenn es drauf ankommt, schneller ziehen kann als seine Konkurrenten, weil er
nicht rechnet, wo eine Figur hinmuss, sondern fühlt.

Irgendwann wird es knallen. Vielleicht heute?

Gukesh, so
viel dringt aus dessen zurückgezogenem Team nach draußen, ist frustriert von
seiner mangelnden Durchschlagskraft. Er hat aussichtsreiche Stellungen erzielt,
aber keinen Sieg. Je schwieriger, komplexer und verrückter die Lage auf dem
Brett ist, desto prompter und sicherer agiert Ding, geradezu magische Lösungen
findend in Situationen, in denen andere ans Aufgeben denken würden.

Im
Publikum staut sich indessen die remisbedingte Erwartung an. Alle wissen: Wenn
die WM nicht früher entschieden wird, dann später. Mit jedem Unentschieden
wächst die Spannung. Irgendwann wird es knallen. Vielleicht heute? Gukesh muss
doch jetzt mit etwas kommen!

Gukesh
kommt mit dem Réti-System, zieht also zu Beginn der Partie den Königsspringer
und den Damenläuferbauern hervor, eine zwiespältige Eröffnung, die auch den in
Schwierigkeiten bringen kann, der sie als Waffe verwenden will. Ding lässt sich
nicht lang bitten und zieht seinen Damenbauern gleich zweimal nacheinander,
über die Mitte des Brettes hinweg. Eine ambitionierte Erwiderung. Ding hätte
das nicht tun müssen. Es gab solidere Möglichkeiten. Sollte er seine Strategie
geändert haben?

Der Bauer
als schwarzer Keil im weißen Lager, so störend wie vorwitzig, so stark wie
schwach. Und wie es immer ist, wenn die zentralen Bauern Kopf an Kopf gegeneinanderstehen:
Um diese Struktur wird sich nun alles drehen. Wohin können die Figuren ziehen,
auf welchen Feldern werden sie Kraft entfalten?

Zunächst
läuft es gut für Gukesh. Ding grübelt schon über seinem vierten Zug 38
unendliche Minuten. Über dem vierten Zug! 38 Minuten von nur zwei Stunden
Bedenkzeit für 40 Züge. Bei anderen Gelegenheiten spulen Meister die ersten 15
vorbereiteten Züge in wenigen Sekunden ab. Was ist, wenn es später kompliziert
wird und er wirklich nachdenken muss? Die Partie scheint zu kippen, noch bevor
sie richtig begonnen hat.

Offensichtlich
ist der Weltmeister überrascht worden. Aus dem Réti-System hat sein
Herausforderer ein Blumenfeld-Gambit im Anzug gemacht, herrlicher
Name. Schach ist überhaupt so herrlich, wenn die Dinge ins Rollen kommen.
Gukesh zieht schnell. Er zeigt seinem Gegner: Ich bin gewappnet. Ich weiß, was
zu tun ist.

Ganz genau
scheint er es allerdings auch nicht zu wissen. Hier und da hätte es bessere
Möglichkeiten gegeben, raunen die Kommentatoren dem Publikum in der Fanzone zu.
Auch ein Fehler, den man machen kann: zu schnell zu werden, wenn der andere zu
langsam ist. Verständlich, bei allem, was hier lockt: am Ende der Titel und
obendrauf 200.000 US-Dollar Prämie pro gewonnener Partie.

Und dann –
versinkt Gukesh in Gedanken. Sein 11. Zug steht an, und Gukesh zieht nicht. Er
schaut aufs Brett, die Arme verschränkt, er lehnt sich zurück in seinem Gaming-Stuhl,
er schließt die Augen, er schaut zur Wand mit den Sponsoren-Logos, er schaut
zum Publikum, das er nicht sehen kann durch das verspiegelte Glas. Er wippt mit
den Füßen, seine Schuhe glänzen, die Rückenlehne wackelt im Takt. Daumen und
Zeigefinger nesteln aneinander, dann richtet er sich auf, schließt die Augen
wieder, faltet die Hände im Schoß wie zum Gebet.

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