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Was steckt hinter Umami? Und wieso die Glutamat-Angst immer eine Farce war | ABC-Z

Tohru Nakamura: ein Feuerwerk am Gaumen

Für mich hat umami eine ganz eigene Bedeutung: Es ist dieses mundfüllende Aroma, das sich rund, vielschichtig, tief anfühlt. Wenn wir – und ich wage zu behaupten weltweit – etwas als besonders schmackhaft empfinden, dann ist meistens umami im Spiel. Umami kommt in sehr vielen Lebensmitteln vor. Tomatensoße mit Parmesan – gar nicht japanisch, aber pures umami!

Es ist keineswegs so, dass Japan ein Patent auf umami hätte. Den Hintergrund hat nur ein Japaner entdeckt, Kikunae Ikeda. Und hierzulande fehlt ein passender Begriff, weshalb wir auf umami zurückgreifen. Oft wird es mit fleischig, herzhaft übersetzt, aber das trifft es meines Erachtens nicht genau.

Tohru Nakamura ist Sternekoch mit japanischen Wurzeln. Sein Restaurant „Tohru in der Schreiberei“ ist in einem der ältesten Bürgerhäuser der Münchner Altstadt untergebracht.Jana Mai

Den gegenwärtigen umami-Hype erkläre ich mir so, dass es mehr denn je eine hohe Affinität für japanische Kulinarik gibt. Im Dialog mit meinen Gästen spielt er glücklicherweise keine große Rolle, weil der Umgang mit japanischen Dingen in meinem Restaurant auf entspannte Weise geschieht, was der ganzen Sache die Aufregung nimmt.

Aber: Umami ist allgegenwärtig, allein durch die Verfügbarkeit von Sojasauce und Misopaste in jedem Supermarkt. Schon meine deutsche Großmutter hat durch den Einfluss meines japanischen Vaters die schwäbische Maultaschensuppe mit einem Schuss Sojasauce aufgemotzt. Dann passierte etwas am Gaumen, das ich jedem nur empfehlen kann. Sojasauce stand bei ihr in Künzelsau schon in den Achtzigerjahren selbstverständlich neben den anderen glutamathaltigen Geschmacksverstärkern Maggi und Fondor.

In der westlichen und in der asiatischen Küche gibt es viele Produkte, die von Natur aus viel umami mitbringen. In der japanischen Kulinarik ist Dashi, unsere Brühe, das repräsentativste Gericht. Sie besteht aus drei Zutaten: Wasser, die von Ikeda erforschte Kombu-Alge und Bonito-Flocken.

Bonito ist ein sehr eiweißreicher Salzwasserfisch der Makrelenfamilie, der nach einem aufwändigen Verarbeitungsprozess zu Flocken gehobelt wird. Durch die nur drei Zutaten in der Dashi wirkt die japanische Küche auf den ersten Blick simpel, wenn man etwa gegenüberstellt, wie viele Zutaten die französische Küche für einen Fond oder eine Consommé verwendet. Oder wie lange ein Jus auf dem Herd köchelt.

Aber wie viele Fertigungsprozesse im Vorfeld nötig sind, bis die Kombu-Algen gebrauchsfähig sind, ist unglaublich. Man holt sie ja nicht aus dem Wasser und wirft sie in den Kochtopf. Genauso geht getrockneten Bonito-Flocken ein langwieriger Reife- und Fermentationsprozess voraus.

Bei jeder Fermentation werden Aminosäuren aufgespalten, die sich neu zusammenfügen und so einen anderen Geschmack entstehen lassen. Der Fisch wird gefangen, filetiert, gekocht, geräuchert und schließlich getrocknet. Der Trocknungsvorgang allein ist sehr komplex: Der Fisch kommt in den Reifekeller, wo natürliche Pilze die Fermentation in Gang bringen.

Bei strahlendem Sonnenschein, leichtem Lüftchen, trockenem Klima, ohne Regen im Idealfall, wird er im Freien getrocknet. Es ist ein ständiger Wechsel von Rausbringen und Reinholen – über Monate. Unseren Bonito fürs Restaurant beziehen wir tatsächlich aus der Bretagne. Die Qualität ist dieselbe, nur der Transport kürzer. Den Fisch reiben wir dann frisch nach Bedarf auf einem Hobel zu Flocken.

Aber umami ist wie gesagt nicht auf Lebensmittel japanischer Herkunft beschränkt. Die Römer kochten schon Garums, in Spanien und Portugal kommt getrockneter Stockfisch in die Eintöpfe für besonders herzhaften Geschmack. Glutamate kommen überall vor, in eiweißreichen Lebensmitteln, besonders wenn sie getrocknet oder fermentiert sind. Selbst in der Muttermilch findet sich Glutamat.

Ich erinnere mich immer gerne an den Film „Ratatouille“, in dem die Ratte Rémy genüsslich den Käse isst und immer wieder neu kombiniert mit anderen Lebensmitteln. Wer schon mal einen banalen Trauben-Käsespieß gegessen hat, versteht, was für eine Wohligkeit sich in dem Moment in der Ratte auftut, wie gut Käse und Trauben zusammenpassen. Und dass eins und eins eben nicht nur zwei ergibt, sondern viel mehr – ein Feuerwerk am Gaumen. Dasselbe passiert, wenn man eine Dashi löffelt.

Wenn ich zu Hause für die Familie Pasta koche, brate ich erst zwei Anchovisfilets in Olivenöl an, die mit den Tomaten vollen umami-Geschmack ergeben. Auch bei einer Carbonara mit gereifter und gepökelter Schweinebacke entsteht in der Kombination mit gereiftem Parmesan mit seinen Kristallen und Ei sensationelles umami. Wenn ich koche, will ich ein maximales Geschmackserlebnis erzeugen und dabei die Sinnlichkeit nicht verlieren. Das gilt für Pasta zu Hause so wie für mehrgängige Menüs in meinem Restaurant.

Birgit Hollenbach: zu Unrecht in Verruf geraten

Am Anfang der fünften Geschmacksrichtung steht die Forschungsarbeit des japanischen Chemikers Kikunae Ikeda. Schon 1908 definierte er sie als umami. Im Deutschen nähert man sich dem Begriff in der Wissenschaft mit Begriffen wie „würzig“, „fleischig“ oder „herzhaft“ an.

Nach Ikedas Entdeckung vergingen Jahrzehnte, bis im Jahr 2000 ein Team von Neurowissenschaftlern auf der Zunge Sinneszellen für die Geschmacksrichtung umami entdeckten. Die Forscher zeigten so, dass umami wirklich existiert – und von dem Geschmacksverstärker Mononatriumglutamat (MNG) ausgelöst wird. Bis dahin ließen sich nur die vier Wahrnehmungen süß, salzig, bitter und sauer biochemisch zuordnen.

Birgit Hollenbach, Biochemikerin und Wissenschaftsjournalistin, ist Mit-Geschäftsführerin des Berliner Redaktionsbüros KontextGesundheit.
Birgit Hollenbach, Biochemikerin und Wissenschaftsjournalistin, ist Mit-Geschäftsführerin des Berliner Redaktionsbüros KontextGesundheit.Die Hoffotografen Berlin

Was machte Kikunae Ikeda? Er isolierte in monatelanger Forschung aus Kombu-Algen diejenige Substanz, die für den Geschmacksreiz verantwortlich war: Glutaminsäure. Er fand zudem heraus, dass das einfache Natriumsalz der Glutaminsäure, das Mononatriumglutamat, den Geschmack noch weiter steigerte – und brachte es auf diese Weise in Millionen asiatische Haushalte.

Ikeda gründete die Firma Ajinomoto, was so viel bedeutet wie Geschmacksessenz. Sie produziert noch heute große Mengen MNG aus Glutaminsäure. Im Jahr 2023 sollen laut der Plattform ChemAnalyst weltweit insgesamt 2,8 Millionen Tonnen Glutaminsäure produziert worden sein.

Dabei war MNG nur der erste umami-Auslöser, der entdeckt wurde. Auch andere Salze der Glutaminsäure gehören dazu. Sprechen wir heute von Glutamat, meinen wir damit Glutaminsäure und ihre Salze. Ebenso rufen die Phosphatverbindungen Inosinmonophosphat (IMP) und Guanosinmonophosphat (GMP) umami-Geschmack hervor. In Europa verbergen sie sich alle hinter den Lebensmittelzusatzstoffen mit den Nummern E620 bis E635.

Das Potential der Glutamate als Geschmacksverstärker hat dazu geführt, dass die Lebensmittelindustrie sie künstlich herstellt und für Flüssigwürzen, Gewürzmischungen und Fertiggerichte verwendet, um den Geschmacksverlust infolge von Kochen und Tieffrieren zu kompensieren. Sie sind für Lebensmittel allgemein zugelassen. Glutamat und die genannten Phosphatverbindungen sind aber keine künstlichen Substanzen; sie sind natürliche Bestandteile in vielen Lebensmitteln.

Ikeda fand während seiner Studienzeit in Leipzig heraus, dass etwa Spargel, Tomaten, Fleisch und Käse noch eine weitere Geschmacksrichtung aufwiesen, die er damals aber nicht zuordnen konnte. Erst zurück in Japan entdeckte er, dass der gleiche Geschmack auch in seiner Misosuppe zu finden war. Dort war der Ursprung die Kombu-Alge, aber auch die in der Suppe enthaltenen Shiitake-Pilze und geräucherten Thunfisch-Flocken. Seine Analyse brachte hervor: Besonders viel Glutamat findet sich in proteinreichen Lebensmitteln.

Warum ist die Zugabe von Glutamat heute so in Verruf geraten? Wo die Aminosäure L-Glutaminsäure doch in allen Lebewesen als Bestandteil von Proteinen vorkommt und in fast allen proteinhaltigen Lebensmitteln auf natürliche Weise enthalten ist?

Jahrzehntelang ging man davon aus, dass MNG gesundheitsschädlich sei. Losgetreten wurde die Geschichte 1968 von einem in den USA ansässigen Arzt. Dabei konnte keine wissenschaftlich haltbare Studie dessen Behauptungen nachweisen. Erst 1993 wurde in einer Studie eindeutig gezeigt, dass Menschen nach dem Konsum von MNG keine körperlichen Beschwerden entwickeln wie die häufig geschilderten Symptome Übelkeit, brennendes Gefühl im Nacken, Brustschmerzen, Herzklopfen, Kopfschmerzen und Bluthochdruck.

Schließlich bestätigte die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit 2017: Glutaminsäure und ihre Salze sind unbedenklich, auch wenn vereinzelte klinische Berichte von Überempfindlichkeitsreaktionen erscheinen. Darum sollten es nicht mehr als 30 mg Glutamat pro Kilogramm Körpergewicht täglich sein.

Bei einem Körpergewicht von 70 Kilogramm entspricht das 2,1 g Glutamat oder 125 g Parmesan, der neben Kombu-Algen eine der höchsten Mengen an natürlichem Glutamat enthält. Ein überempfindlicher Mensch mit 70 Kilogramm Körpergewicht könnte von 180 g Parmesan an vorübergehend unangenehme Symptome erfahren.

Neuere Forschungen untersuchen auch die gesundheitlichen Vorteile von Glutamat. So könnte Glutamat in fettarmen Lebensmitteln den Geschmack erhöhen und damit eine salzarme und fettarme Ernährung unterstützen. Auch für ältere Menschen mit verringertem Appetit wäre der Zusatz von Glutamat eventuell sinnvoll.

Julia Floß: die Farce des „Chinese-Restaurant-Syndrome“

Harald Wohlfahrt war zu der Zeit Küchenchef im mit drei Michelin-Sternen ausgezeichneten Restaurant „Schwarzwaldstube“ im Hotel Traube Tonbach in Baiersbronn, als ich dort meine Ausbildung zur Köchin absolvierte.

Eines von Wohlfahrts Signature-Dishes war ein Kaisergranat in Kadaifi-Teig mit Koriander-Mayonnaise und Mango-Chutney. Das Gericht schmeckte unter anderem deshalb so unfassbar gut, weil die Mayonnaise auf einer Sojasaucen-Reduktion basierte. Mit dem Kennenlernen der Haute Cuisine wurde ich auch mit asiatischen Zutaten vertraut. In diesem Zuge fiel für mich zum ersten Mal das Wort umami.

Julia Floß ist Köchin, Foodjournalistin und Buchautorin. Sie betreibt den Podcast „Umamitown“.
Julia Floß ist Köchin, Foodjournalistin und Buchautorin. Sie betreibt den Podcast „Umamitown“.Anna Maria Langer

Seither hat mich umami nicht mehr losgelassen – und es hat meine generelle Begeisterung für Geschmack und Sensorik weiter befeuert. Der Podcast, den ich zusammen mit Anke van de Weyer, Moderatorin bei Deutschlandfunk Nova und ambitionierte Hobbyköchin, betreibe, heißt „Umamitown“.

Ich habe mich immer weiter mit dem Thema umami und dem Gewürz Glutamat beschäftigt. In diesem Zusammenhang ist mir auch erstmals das „Chinese-Restaurant-Syndrome“ begegnet – wobei ich feststellte, dass es dieses Syndrom gar nicht gibt, und dass die Geschichte dahinter eine absurde Farce ist, die im Kern auch einiges mit antiasiatischem Rassismus zu tun hat.

Ausgangspunkt dieser Farce war im Jahr 1968 ein Text mit der Überschrift „Chinese-Restaurant-Syndrome“, der in einer medizinischen Fachzeitschrift erschien, dem „New England Journal of Medicine“. Allerdings wurde der Artikel damals auf der Leserbriefseite veröffentlicht, die auch als Scherzseite bekannt war.

Inhalt des Texts war, grob zusammengefasst, dass nach dem Besuch von chinesischen Restaurants Taubheitsgefühle im Nacken, allgemeine Schwäche, Müdigkeit oder Herzklopfen aufgetreten seien, und man doch einmal untersuchen solle, ob ein Zusammenhang zwischen Glutamat und diesen Symptomen bestehe.

Einige andere Mediziner reagierten auf dieser Leserbriefseite auf den Text – mit dem Ergebnis, dass die „New York Times“ über dieses „Chinese-Restaurant-Syndrome“ groß berichtete, allerdings ohne die Quelle einzuordnen. Und damit war das vermeintliche Syndrom in der Welt. Das hatte Folgen: Bis zum heutigen Tag hängen in den Fenstern vieler asiatischer Restaurants noch immer Wimpel, auf denen steht: „Bei uns wird ohne Glutamat gekocht.“

Eine gewisse Rolle spielte in diesem Zusammenhang wohl auch, dass sich die Vereinigten Staaten zum Zeitpunkt des Artikels im Krieg in Vietnam befanden, in dem insgesamt etwa 58.000 amerikanische Soldaten ums Leben kamen. Vielerorts herrschte ohnehin ein antiasiatisches Klima, das die Glutamat-Angst noch verstärkte. Bis zur wissenschaftlichen Aufklärung durch Studien und Analysen vergingen Jahrzehnte.

Wenn ich heute Rezepte an Redaktionen schicke und darin eine kleine Prise Mononatriumglutamat (MNG) zum Beispiel für Essiggurken vorgesehen habe, wird diese Prise als erstes herausgestrichen – weil man eine Flut an Leser- oder Zuschauerreaktionen fürchtet.

Kurz: Es ist eben immer noch der böse Geschmacksverstärker. Dabei kommt es, wie so oft, ganz auf die Dosierung an. Genau wie bei der Zugabe von Zucker, Salz oder Fett. Dass ich nicht aufhören kann, Chips zu essen, bis die Tüte leer ist – das liegt eben nicht nur am MNG, sondern an der Mischung aus Fett, Salz, Zucker, MNG und vor allem meiner persönlichen Entscheidung, weiterzuessen. Umami oder MNG macht uns nicht willenlos. Es schmeckt einfach sehr gut.

Julian Stieger: „Wir fermentieren nahezu alles“

Bevor Julian Stieger seine Gäste in den holzgetäfelten ersten Stock im ehemaligen Schulhaus neben der Kapelle führt, präsentiert er auf einem Tablett die Zutaten, die er mit seinem Team später am Abend in der offenen Küche zu 16 kulinarischen Highlights komponieren und am geschwungenen Messingtresen servieren wird.

Julian Stieger ist seit Oktober 2022 Küchenchef des „Chef's Table“ im Rote Wand Gourmet Hotel in Zug am Arlberg. Der Dreißigjährige arbeitete zuvor in zahlreichen Spitzenrestaurants in Wien, New York und Kopenhagen.
Julian Stieger ist seit Oktober 2022 Küchenchef des „Chef’s Table“ im Rote Wand Gourmet Hotel in Zug am Arlberg. Der Dreißigjährige arbeitete zuvor in zahlreichen Spitzenrestaurants in Wien, New York und Kopenhagen.Rote Wand Gourmet Hotel I Ingo Pertramer

Auf Moos und Kiefernzweige gebettet, finden sich Pilze, die er mit seiner Küchenbrigade gesammelt hat, eine präparierte Pekingente samt Schnabel und Füßen, Steckrüben, die getrocknete Hülle eines Störs, Zwiebeln, Auberginen, Zucchini, Kohlrabi, Bergkäse. Im Hintergrund stehen Weckgläser mit hausgemachtem Waldmeisteressig, Kiefernzapfensirup, fermentiertem Hopfen. Pures umami. Dann beginnt Julian Stieger zu erzählen.

„Wir fermentieren hier fast alles. Heute Nachmittag war ich mit dem Küchenteam im Zuger Tal spazieren, um Wacholder zu sammeln. Daraus machen wir in unserem Versuchslabor ein Duftspray. Das nutzen wir selbst und geben es im Winter abgefüllt den Gästen mit. Es ist kein Parfum fürs Kopfkissen, sondern erzeugt den letzten Schliff auf dem Salat.

Wir fermentieren Zirben, Kiefern, Pilze, Kräuter – alles, was uns auf dem Weg begegnet und in den eigenen Gärten zwischen 1500 und 1800 Metern Höhe im Sommer wächst: rund 1000 Weckgläser. So können die Gäste wilden Spargel oder Rhabarber essen, selbst wenn vor der Tür drei Meter Schnee liegen.

Natürlich kann man heute alles zu jeder Jahreszeit frisch kaufen. Aber genau das wollen wir nicht. Wir legen größten Wert auf Regionalität: Kein Fisch, kein Krustentier kommt aus dem Salzwasser. Unser Taubenlieferant sitzt im 600 Kilometer entfernten Burgenland, aber das ist die weiteste Entfernung, neben dem Koji-Pilz, der aus Japan geschickt wird für die Fermentation.

Garnelen, selbst der Kaviar kommen aus österreichischer Zucht. Nur auf das Prestigeprodukt Trüffel wollen wir nicht verzichten, das ist wichtig für die Gäste, wenn die Menüfolge keinen Gang mit Hummer oder Heilbutt vorsieht. Sie kommen ja mit einer gewissen Erwartung zu uns.

Wir wollen mit den Zutaten aus den Alpen Emotion erzeugen. Mir und der Hoteliersfamilie Walch geht es um Überraschungsmomente: Wenn das Fichtensorbet mit Zirbenschaum wie ein Waldspaziergang schmeckt und Kieferntriebe im Portobello-Pancake für Aufregung sorgen. Deshalb fermentieren wir wirklich alles.

Fermentation ist nichts Neues: Sauerkraut haben mit Laktofermentation schon unsere Urahnen gemacht. Das Problem ist nur, dass alles nicht mehr köstlich oder umami schmeckt, sondern sauer. Deshalb haben wir bei vielen Produkten auf Koji-Fermentation umgestellt. Den Schimmelpilz beziehen wir von einem der wenigen in Japan zugelassenen Produzenten.

So stellen wir unsere eigenen Garums her und produzieren unsere eigene Sojasauce oder Fischsaucen, eine Dashi, mit Aalen und anderen Fischen aus dem Lech. Ein sehr, sehr langer Reifeprozess – und es entwickelt sich eine unglaubliche Tiefe. Mit unseren Fermentationstechniken nähern wir uns dem Bonito-Geschmack gut an.

Dashis an sich habe ich erst richtig vor vier Jahren in Amerika kennengelernt. In den Restaurants, in denen ich zuvor gearbeitet habe, hieß es nie: Wir brauchen mehr Tiefe, mehr umami! Zu der Zeit haben es viele mit dem Glutamat übertrieben, viele Köche waren süchtig nach dem Dashi-Geschmack und packten immer mehr rein.

Schließlich gab es einen Punkt, an dem sich viele wieder davon verabschieden wollten, aber da waren schon allerhand asiatische Produkte in die westliche Küche eingewandert. Und wir merkten alle, dass man damit gut arbeiten kann – und einen Geschmack erreicht, den man so noch nicht hatte. Aber die Balance muss stimmen.“

Thomas Hummel: Erst das Riechen erschließt das volle Aroma

Wie nah im Alltag Riechen und Schmecken beieinander liegen, merken wir erst, wenn einer der beiden Sinne nicht mehr richtig funktioniert. Wobei der Geruchssinn öfter beeinträchtigt sein kann als der Geschmackssinn – und das Schmecken schneller wieder zurückkehrt als das Riechen, wenn es einmal verloren war.

Ein vorübergehender oder längerer Ausfall wird jedoch von vielen Menschen als tragisch empfunden. Studien ergaben, dass Menschen, müssten sie auf einen der beiden Sinne verzichten, sich tatsächlich vom Riechen leichter verabschieden könnten als vom Schmecken.

Das, was viele Menschen unter Schmecken verstehen, ist aber der Feingeschmack oder die Aromawahrnehmung, ein Zusammenspiel aus Nase und Zunge. Man kann sich das ganz einfach vergegenwärtigen, indem man sich die Nase zuhält, dann ein Bonbon in den Mund steckt und lutscht – und schließlich die Nase wieder öffnet. Dann merkt man, wie sich das Aroma ausbreitet. Das ist die Aromawahrnehmung. Die meisten Leute denken, die Aromawahrnehmung sei etwas, was mit dem Mund, mit Schmecken tun hat.

Die Medizin definiert unter Schmecken jedoch nur einen Teil dieses Zusammenspiels, die sogenannte gustatorische Wahrnehmung. Dazu gehören die fünf Geschmacksrichtungen süß, sauer, salzig, bitter und umami. Dieser gustatorische Sinn wird von drei Nerven im Mund getragen.

Die Unterscheidung ist wichtig, denn Menschen, die ihren Geruchssinn verloren haben, können weiterhin süß, sauer, salzig, bitter und umami schmecken. Aber wenn jemand nicht mehr riechen kann, fehlt ihm der Feingeschmack. Beim Verlust des Geruchs ist das Essen keine Belohnung mehr, denn die Befriedigung stellt sich größtenteils über das Riechen ein. Einfach gesagt: Über die Sinneszellen der Zunge schmecken wir zwar, aber die Hauptarbeit erledigen die Nerven in der Riechschleimhaut.

Das volle Aroma von Speisen und Getränken wird erst durch den Geruchssinn gänzlich erschlossen, indem Moleküle durch den Rachenraum zum Riechorgan aufsteigen. So unterscheiden sich etwa Apfel und Birne, ein Colalutscher von einem Pfefferminzbonbon.

Warum es so lange gedauert hat, bis Neurowissenschaftler im Jahr 2000 die zu umami gehörigen Geschmacksrezeptoren auf der Zunge entdeckt haben und umami endlich als fünfte Geschmacksrichtung quasi nachweisbar akzeptiert wurde – das kann ich mir nur so erklären, dass umami ein nicht so prägnanter Geschmack ist im Vergleich zu anderen. Das drückt sich schon in unserem Wortschatz aus, weil wir gar kein richtiges Wort dafür haben. Die Studie „A cross-cultural survey of umami familiarity in European countries“ aus dem Jahr 2019 belegt das.

Dabei wurde untersucht, ob Menschen in Finnland, Deutschland und in Italien überhaupt umami beschreiben können. Präzise beschreiben konnten es weniger als fünf Prozent. In Deutschland waren es sogar nur 2,5 Prozent, in Italien ebenfalls, nur in Finnland konnten immerhin 15 Prozent der Teilnehmer umami beschreiben. Hühnerbrühe, Fleischbrühe und Pilzsud wurden dabei häufig genannt. Würde man die Studie unter Asiaten durchführen, käme man vermutlich zu einem ganz anderen Ergebnis.

Thomas Hummel ist Leiter des Interdisziplinären Zentrums für Riechen und Schmecken an der Universitätsklinik in Dresden.

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