Grüne in Leipzig: Wo Habeck sich zum „Bündniskanzler“ der „Bündnisrepublik Deutschland“ erklärt | ABC-Z
Wo er hinkommt, sorgt Robert Habeck für volle Säle, selbst in der ostdeutschen Diaspora. In Leipzig beschwört Habeck die alte Konsensrepublik – und preist sich selbst als Zuversicht vermittelnde Hoffnungs- und Lichtgestalt.
Habeck grinst, grüßt, berührt seine Fans; um die 1200 sind gekommen am Montagabend in Leipzig, eine knappe Stunde lang hat er zu ihnen gesprochen, Fragen gibt es nicht, dafür Selfies hinterher und Tuchfühlung am Absperrband. Eine kleine alte Dame scheint Tränen in den Augen zu haben, als er sich Zeit nimmt für sie. Viele ihrer Freunde, sagt sie, „die winken ab, wenn ich denen das sag‘ – aber es war ganz toll!“
In Sachsen, im Osten überhaupt, gibt es nicht viele Grünen-Wähler, heute Abend kamen sie teils aus Halle in Sachsen-Anhalt angereist oder immerhin eine Stunde „vom Dorf“ aus dem Leipziger Umland. Von einem Tisch können sie sich einen „Wagenknecht quälen, Grüne wählen“-Aufkleber mitnehmen oder ein „Team Robert“-Stickerset mit „Nazis Nein Danke“, „Stand with Ukraine“ und Windrad-Motiven. Auf dem Herrenklo liegt eine Schachtel Damenbinden aus.
Im Publikum stehen auch, aber nicht überwiegend, urban-städtisch-queere Jüngere in Doc Martens; da ist auch eine 69-Jährige Zerspanungsfacharbeiterin im Ruhestand mit jahrzehntelanger Drei-Schicht-Betriebserfahrung oder zwei BWL-Studenten. Einer davon sagt: „Junge Grüne“ seien ihm teils zu radikal mit ihrem „Nur-Reiche-besteuern“-Sprech, und: „Ich würde die Grünen nicht wählen, wäre Habeck nicht ihr Kandidat.“
Solche Wähler will Habeck mit seiner Grünen-Verbürgerlichung ansprechen. Aber die Grünen stecken in den Umfragen fest. Habecks Sozialabgaben-Debakel beherrschte die letzte Woche, in diesen Tagen beherrscht die Causa Stefan Gelbhaar die mediale Debatte über die Grünen. Die Zuhörer, die WELT fragt, sprechen von sich aus nicht über die teilweise erfundenen Belästigungsvorwürfe gegen den Berliner Bundestagsabgeordneten, manch einer kennt den Vorgang gar nicht.
Habeck spricht natürlich auch nicht darüber, stattdessen gibt es Witze und Vorwürfe gegen Milieus, die den Grünen fremd sind: Ein Bild vom Merz-Söder-Treffen mit Würsten vom Wochenende ist für Habeck der „Wurst-Frieden von Brilon“. Er freut sich, dass Söder neulich an einer illegalen Habeck-Projektion in München vorbeilaufen musste, für den Kandidaten eine „freche, piratige Aktion“.
Oder er spricht über Donald Trump und Elon Musk, da wird es dann bei ihm sehr ernst, es geht um den von ihm stets beschworenen Systemkonflikt. Aus Habecks Sicht reicht der Arm dieser neuen Autokraten – sein Begriff – über die AfD nach Deutschland: „Das Nachplappern der Thesen der AfD oder des populistischen Gequatsches im Internet – kein Kavaliersdelikt! Es ist so gefährlich!“, ruft er. Letztlich bereite es den Raum dafür, die „Bündnisfähigkeit des Landes zu unterminieren“.
Mit Bündnisfähigkeit meint Habeck nicht den Nato-Anschluss, sondern eine „Bündnisrepublik Deutschland“, deren „Bündniskanzler“ er sein will. Es klingt nach dem alten Selbstbild von Deutschland als Land des in Verbänden ausgehandelten Konsenses, der nicht grundlegend infrage gestellt wird, ein Deutschland ohne fundamentalen Streit.
„Bündnisrepublik“ heißt nach Habeck, „dass man trotz unterschiedlicher Meinung, trotz unterschiedlicher kultureller Prägung, vielleicht auch Einkommen, vielleicht auch Hautfarbe oder sogar Geschlecht sich einigen kann, gemeinsam für eine gewisse Zeit einen Weg zu gehen“. Wenn Umweltverbände und Kirchen und Unternehmer zusammen agierten, dann seien das starke gesellschaftliche Bündnisse. Und wenn die „Umweltverbände und die Unternehmen nicht einer Meinung sind“, dann könnten „vielleicht die Gewerkschaften dazukommen“.
Habecks Vorrednerin Paula Piechotta, Chefin der Landesgruppe der ostdeutschen Grünen im Bundestag, hatte CDU-Chef Merz vorgeworfen, dieser wolle „in die tollen 90er-Jahre zurück.“ Doch entwirft auch Habeck somit eine vergangene Republik, in der keine AfD und kein BSW radikale Fragen stellen. Über mögliche Ursachen für solche Fragen wie das Migrationsgeschehen spricht er nur im Modus der Abwehr etwa von Vorschlägen der Union. Er imitiert dann eine irgendwie verbohrt-düstere Sprechweise und ruft: „Europäische Asylregeln, das interessiert uns alles nicht. Wir machen das jetzt einfach mal, dann werdet ihr schon sehen, wie das geht.“
Aber, ruft er dann: „Wir dürfen niemals Ungarn sein wollen“, und sein nächster Satz versinkt in Jubelrufen und Applaus.
Die alte Bundesrepublik beschwört Habeck auch immer wieder, wenn es ums Wirtschaftswachstum geht, für ihn nötig, weil verknüpft mit Umverteilung und somit Demokratiesicherung, so wie in der Nachkriegszeit mit Wirtschaftswunder und sozialer Marktwirtschaft. Nur müsse es klimaneutral sein und Deutschland als Beispiel vorangehen in einer Welt, die sich entschieden habe, klimaneutral zu werden.
Anderenfalls gilt an diesen Abend: „Wir werden ein massives Problem bekommen, wenn die globale Erwärmung einfach läuft. Wir werden Vertreibung und Konflikte und Hunger und Durst erleben und vor allem eine rapide Einschränkung der Möglichkeit, sein eigenes Leben selbst zu bestimmen. Hier in Deutschland, hier in Europa, überall auf der Welt.“
Trump, Musk, die AfD oder zusammengefasst: der Populismus, ist für Habeck die Bedrohung all dieser Überzeugungen und aus seiner Sicht notwendigen Entwicklungen.
Und deswegen eben sei das „Nachplappern der Thesen der AfD“ so „gefährlich“ und bereite den Raum zur Unterminierung der Bündnisrepublik. Und deswegen wiederum, da schließt sich der Kreis, sei es auch so „unangenehm“, das „Ranwanzen an Elon Musk und Donald Trump“ zu sehen, „weil es die falsche Laufrichtung ist, die falsche Bewegung“.
„Ja, wir werden mit den USA klarkommen müssen“, schiebt Habeck dann noch an diesem Tag der Inauguration von Donald Trump als 47. Präsidenten der Vereinigten Staaten hinterher – „aber doch nicht, indem wir uns vor Autokraten in den Staub werfen, sondern nur, in dem wir stärker werden, den Rücken gerade machen und wissen, wer wir sind!“ – großer Applaus.
„Wissen wer wir sind“, den „Rücken gerade machen“ – das sagt Habeck dreimal an diesem Abend. Und auch seine Forderungen nach einem Europa „dienend-führenden“ Deutschland wiederholt er. Habeck bietet so eine grüne national-europäische Vision von Stärke und Identität an, die es wahrscheinlich kaum je gab in dieser Partei.
Die Erzählung passt aber zum Entwurf einer zunehmend chaotischen oder feindseligen Außenwelt, die die Partei in den letzten Wochen anhand von Trump und einer aus ihrer Sicht zunehmend „tech-autokratischen“ USA zeichnet. Habeck steht dagegen als Widerstands-, Hoffnungs-, Lichtgestalt: „Bündnisfähigkeit, der Bündnisgedanken, der Bündniskanzler“, das sei „nicht nur ein Wort. Es ist ein politisches Gegengift gegen den Populismus“, sagt Habeck. Er wolle nicht nur einen „Kristallisationspunkt schaffen“ für „Zuversicht“ – er will einer sein.
Das zieht Menschen an, Leipzig ist nicht die erste Grünen-Veranstaltung, wo sie draußen an der Tür Besucher abweisen müssen, weil die Halle zu voll ist; es tue ihm leid, „rappelvoll“ sei es, sagt einer der vielen Security-Männer, und verweist die Enttäuschten an eine Live-Übertragung der Veranstaltung auf einer Leinwand am Marktplatz um die Ecke.
Auch das Hereinkommen selbst bedeutet Ungemach: Laut einem Pressesprecher standen viele Besucher schon zwei Stunden vor Einlass an, und sie werden gründlich gefilzt: Es gibt Sprengstoffhunde, ein junger Mann in einer Art Zaubererumhang muss sich von einem Sicherheitsmann in den Zylinder schauen lassen. Drinnen fächern sich ältere Besucher Luft zu, es ist warm und stickig, Bockwurstdunst weht aus der Lobby.
Sie alle bleiben bis zum Schluss. Der Saal beginnt sich erst zu leeren, nachdem die finalen Jubelrufe für Habeck dadurch abschwellen, dass Piechotta sich wieder zu Wort meldet, während Habeck noch im Applaus badet. Kurz vorher hatte er aus dem offiziellen Wahlkampfsong der Grünen zitiert: „Diese Reise. Willst du dabei sein? Und irgendwann steigen unsere Kinder ein“, dann zieht ein Techniker den Regler hoch, Deutschpop erklingt.
Auf dem Weg nach draußen überreichen junge Wahlkampfhelfer jedem, der will, einen Apfel. Und drei jüngere Besucher unterhalten sich: „Der ist halt nicht so, wie die anderen“, sagt einer, „er lässt Emotionen zu“ ein anderer; „der beleidigt nicht“ ein Dritter, sind mögen ihren „Bündniskanzler“. Habecks Partei lag am Montag mit 13 Prozent auf Platz vier der aktuellsten INSA-Umfrage.
Politikredakteur Jan Alexander Casper berichtet für Politico Deutschland und WELT über Innenpolitik.