Großbritanniens Konservative: Neuanfang unter Kemi Badenoch – Eine rechte Mitte wagen | ABC-Z
Für die Tories steht nicht weniger als die Existenz der Partei auf dem Spiel. Nach Schlingerkurs, Wahldebakel und innerparteilicher Uneinigkeit soll Kemi Badenoch nun einen Neuanfang wagen. Damit er gelingt, muss sie eine Frage beantworten, die sich auch in Deutschland stellt.
Birmingham, Oktober, Parteitag der britischen Konservativen. Nichts geht mehr. Die Tür zur Garderobe ist geschlossen, die Rollläden sind heruntergelassen. In dem Messezentrum hat sich eine kleine Traube aus Tory-Mitgliedern gebildet. Was denn hier los sei, fragt ein hochgewachsener Mann. Die Jacken? Nee, die bekomme man heute nicht mehr zurück, erklärt ein vorbei eilender Mitarbeiter ungerührt. „Kommen Sie morgen früh wieder.“
„Aber es regnet doch!“, ruft eine Frau erbost, das hier – sie zeigt auf ihren Hosenanzug – sei Vintage. Verklagen würde sie den Veranstalter, zetert sie. Die Wartenden beobachten die Frau resigniert, scheinen sich mit ihrem Schicksal abgefunden zu haben. Abgesehen von einer weiteren Parteikollegin. Wütend schlägt sie mit der flachen Hand mehrmals gegen das Rolltor, es scheppert laut. So käme man doch nicht weiter, meldet sich eine andere mit ruhiger Stimme. Sie bittet um Mäßigung, man könne doch über alles reden.
Die Szene in Birmingham steht symbolisch für die desolate Lage der britischen Konservativen. Im Sommer hatten die Tories das schlechteste Wahlergebnis ihrer 200-jährigen Geschichte eingefahren. Die Partei war am Ende, zerstritten, orientierungslos, ohne Führung. Mit Kemi Badenoch versucht sie nun einen Neuanfang.
Rund einen Monat nach der hitzigen Szene mit all ihrer Ratlosigkeit wurde sie Anfang November zur neuen Vorsitzenden der Partei gewählt. Badenoch gilt als stramm konservativ, soll als starke Anführerin die Partei zurück auf Kurs bringen. Denn auf dem Spiel steht nicht weniger als die Existenz der Partei. „Diese Legislaturperiode ist die letzte Chance für die Tories, sich vor der Bedeutungslosigkeit zu retten“, meint Karl Williams, Politikwissenschaftler am britischen Thinktank Centre for Policy Studies.
Im Regen zu stehen, schien ihre neue Rolle zu sein. Die Bilder von Rishi Sunak haben die Konservativen schwer getroffen: Tropfnass hatte ihr ehemaliger Premierminister im strömenden Junischauer den Termin für die Unterhauswahlen verkündet. Im Hintergrund dröhnte aus den Lautsprechern eines Aktivisten von der Straße die Labour-Hymne „Things Can Only Get Better“.
Für die Tories allerdings wurde nichts besser: im Gegenteil. Bei den Unterhauswahlen im Juli schrumpfte sie auf ein Drittel ihrer Sitze zusammen. Viele Briten hatten keine Lust mehr auf die Tories, wählten lieber die Liberaldemokraten oder die Rechtspopulisten um Nigel Farage. Und nicht wenige waren so frustriert, dass sie gleich ganz zu Hause blieben. Am Ende profitierte die Labourpartei am stärksten vom Überdruss. Mit dem besten Ergebnis seit 30 Jahren zog Keir Starmer in die Downing Street Nr. 10 ein. Die konservative Partei, einst Aushängeschild der Briten, wurde in die Abstellkammer verbannt.
In den vergangenen zwei Jahrzehnten waren die Briten Zeugen einen stetigen, entwürdigenden Niedergang der Tories. Wie ein alter Dampfer ohne Steuermann driftete die Partei seit der Finanzkrise auf den Abgrund zu, während die Bürger sich auf dem Passagierdeck an die Reling klammerten. Doch statt umzukehren, führten die Parteichefs das Schiff mit riskanten Manövern und folgenschweren Fehlern – Austerität, Brexit (David Cameron), Partygate (Boris Johnson), Minibudget (Liz Truss), Wettskandal (Sunak) – in immer gefährlichere Gewässer. Irgendwann wollten die Briten nur noch von Bord springen.
Die Wahl stürzte die Tories endgültig in die Identitätskrise. Wofür stand ihre Partei noch? Für welche Werte, welche Ziele? Irgendwo zwischen EU-Austritt und Premierminister Eins und Fünf waren Antworten auf diese Fragen verloren gegangen. Die Konservativen versprachen Steuersenkungen – und erhöhten die Beiträge so stark wie zuletzt in den 50er-Jahren. Sie verteufelten Migranten, versprachen weniger Einwanderung – und ließen mehr Menschen ins Land als je zuvor.
Mehrheit weiß nicht mehr, wofür konservative Partei steht
Ihre zunehmend verzweifelt und konfus wirkende Politik entsprang dem Wunsch, die eigene Misswirtschaft zu kaschieren, die das Land erst in die Krise gestürzt hatte. Doch die Fehler zugeben und versuchen, es besser zu machen? No way. Stattdessen setzte man auf Ablenkungsmanöver und Symbolpolitik: Kulturkampf, Rauchverbote, zusätzlicher Matheunterricht. Diese „Talking Right, Acting Left“-Strategie ließ viele Briten ratlos zurück. Laut einer YouGov-Umfrage wissen 56 Prozent heute nicht mehr, wofür die konservative Partei eigentlich steht.
Eine neue Vorsitzende soll es nun richten und das politische Durcheinander beenden – so die Hoffnung. Diese Aufgabe fällt Kemi Badenoch zu. Die neu gewählte Parteichefin ist die erste Schwarze und erst vierte Frau in diesem Amt. Badenoch, 44 Jahre alt, ist das, was man eine Selfmadefrau nennt. Geboren in Großbritannien, aufgewachsen in Nigeria, kehrte sie mit 16 Jahren nach London zurück – mit weniger als 100 Pfund (120 Euro) in der Tasche. In ihrer Jugend verkaufte sie Burger bei McDonald’s, später studierte sie Computertechnik, arbeitete im Finanzsektor und bei der renommierten Zeitschrift „Spectator“. Seit 2017 ist sie Abgeordnete und gehört dem rechten Flügel ihrer Partei an. Im Kabinett von Rishi Sunak war sie Ministerin für Handel und Gleichstellung.
Obwohl einst Mitglied der Regierung, wird ihr zugetraut, einen Ausweg aus der Sinnkrise der Tories zu finden. Ihr Ziel: Die Partei soll sich wieder auf ihre „Grundprinzipien“ – Freiheit und Eigenverantwortung – besinnen. „Wir sind zu lange gefolgt, jetzt müssen wir führen“, sagt sie. Darin steckt der Subtext: Wenn es sein muss, auch mit harter Hand. In Westminster sagt man über Badenoch, sie könne einen Streit in einem leeren Raum anfangen.
Und auch in einem vollen schlägt sie sich gut. Am Mittwoch forderte sie Premierminister Starmer heraus. Ob er sich dafür entschuldigen werde, dass sein Außenminister den künftigen US-Präsidenten Donald Trump als „Soziopathen, der mit Neonazis sympathisiert“ bezeichnet habe? Starmer druckste herum, scheute eine klare Antwort. Badenoch sei eine „gewaltige Bedrohung“ für Labour, konstatiert der Politologe Niall Ferguson im „Spectator“.
Wie groß die Hoffnungen auf einen Wandel sind, zeigt Badenochs Spitzname. Ihre Anhänger nennen sie die „neue Margaret T“. Die ehemalige Premierministerin Margaret Thatcher (1979 bis 1990) wird bis heute von vielen Briten verehrt. Badenoch ist da keine Ausnahme. Doch während Thatcher Gewerkschaften den Kampf ansagte, richtet sich Badenochs Blick auf die „bürokratische Klasse“: Universitätsangestellte, NGO-Mitarbeiter, liberale Anwälte, Umweltaktivisten. In ihren Augen sind sie Teil einer wohlhabenden Mittelschicht, die den Staat durch Überregulierung kontrolliert. Als Ministerin mobilisierte sie gegen geschlechtsneutrale Toiletten und Selbstbestimmungsrechte für Transpersonen.
Balanceakt zwischen radikalem Kurs und realpolitischer Mäßigung
Als Parteichefin wird sie sich an anderen Dingen messen lassen müssen. Etwa an der Einwanderungspolitik. Und an ihrem Umgang mit dem Mann, den viele Tory-Abgeordnete fürchten: Nigel Farage. Der Chef der rechtspopulistischen Partei Reform UK will die Tories „zerstören“. Mit seiner restriktiven Migrationspolitik zieht er Wähler an, die von der konservativen Partei enttäuscht sind.
Badenoch muss sich entscheiden: Sollen die Tories Farages radikalen Kurs kopieren – oder sich davon abgrenzen? Zwar ist die neue Parteichefin eine Befürworterin des auf Eis gelegten Ruanda-Gesetzes über die Abschiebung ausreisepflichtiger Asylbewerber in Drittstaaten. Gerade erst erklärte sie, dass „nicht alle Kulturen gleich viel wert sind“. Gleichzeitig spricht sie sich gegen einen Austritt Londons aus der Europäischen Menschenrechtskonvention aus.
Doch der Weg zurück in die Downing Street führe für die Tories über Realpolitik statt ideologischer Symbolpolitik, sagt im Gespräch mit WELT AM SONNTAG Tim Bale, Autor mehrerer Bücher über die Partei. Ein harter Kurs gegen Einwanderung, Klimaschutz und Transrechte spräche vor allem eine alternde, konservative Basis an. Jüngere Wähler entschieden vielmehr danach, welche Partei sich um die kränkelnde Wirtschaft, die Gesundheitsversorgung, Schulen und den Nahverkehr kümmere. Denn das, was den Menschen im Alltag wichtig ist, funktioniert immer schlechter: Im August mussten Patienten im Durchschnitt fast 15 Wochen auf eine Behandlung im Krankenhaus warten.
Die Preise steigen, die Löhne halten nicht mit. Viele Menschen machen die lange regierenden Konservativen dafür verantwortlich. Badenoch muss nun zeigen, dass die Briten den Tories wieder vertrauen können. Wie einst Thatcher plädiert Badenoch für einen schlanken Staat, Steuersenkungen und minimale Regulierung, um das Land nach vorn zu bringen.
Doch Politikwissenschaftler stellen infrage, ob dieser Kurs die Tories ans Ziel führt. „Die Lösungen, die Thatcher damals für die Probleme der 70er- und 80er-Jahre hatte, sind nicht unbedingt die, die im Jahr 2024 noch funktionieren“, sagt Bale. Er ergänzt: „Parlamentswahlen werden in Großbritannien traditionell eher in der Mitte gewonnen als am linken oder rechten Rand.“
Den Weg zur Mitte muss Badenoch noch finden. In der Wählerschaft – und in ihrer Partei. Vor der Garderobe in Birmingham blieb ein Tumult am Ende aus, die Jacken wanderten doch noch über den Tresen. Eine Delegierte hatte das Personal überredet, die Garderobe zu öffnen. Es war jene Politikerin, die ihren Parteigenossen zur Mäßigung geraten hatte.
Mandoline Rutkowski ist Korrespondentin für die Berichtsgebiete Vereinigtes Königreich und Irland. Seit 2023 berichtet sie für WELT aus London.