Großbritannien: Zwischen Moral und „autoritärer Grenzpolitik“ – Die Migrationskrise wird für Labour zum Dilemma | ABC-Z
Großbritanniens Premierminister steht unter Druck. Eine Geschenke-Affäre hat ihn Reputation gekostet. Ungelöst ist auch die Frage, wie das Land mit illegaler Einwanderung umgehen soll. In der Gesellschaft sorgt das Thema für Unmut. Vorschläge aus Brüssel könnten für weiteren Zündstoff sorgen.
Humor ist, wenn man trotzdem lacht. Dieses Sprichwort dürfte der britische Premierminister Keir Starmer am Dienstag beherzigt haben. In seiner ersten Rede als Regierungschef auf dem Labour-Parteitag in Liverpool ließ sich der sonst so reservierte Vorsitzende zu einer Reihe von Scherzen hinreißen. Die Botschaft: kein Grund zur Sorge.
Dabei war die Lage alles andere als amüsant. In den Tagen zuvor war ein Thema zum Dauerbrenner geworden: Starmer soll seit Dezember 2019 zum Teil zu spät deklarierte Geschenke im Wert von mehr als 107.000 Pfund (127.000 Euro) kassiert haben, so viel wie kein anderer Abgeordneter.
Britische Medien hatten vor Beginn der Konferenz darüber berichtet. Auch andere hochrangige Labour-Politiker gerieten ins Kreuzfeuer der Kritik. Zwar ist es Politikern erlaubt, Geschenke anzunehmen, doch die Meldung kam angesichts angekündigter Sparmaßnahmen ungelegen. Während die Briten den Gürtel enger schnallen sollten, ließ sich Starmer zu Taylor-Swift-Konzerten einladen und mit kostenloser Designermode einkleiden, so die Wahrnehmung. In den Umfragen stürzte der Premier ab – nach nur zehn Wochen im Amt.
In den Gängen der Konferenzhallen und auf den Podien in Liverpool war die Nervosität spürbar. Nach monatelangen Spitzenwerten in den Umfragen, die in einen Erdrutschsieg bei den Parlamentswahlen im Juli mündeten, bekamen die Delegierten zu spüren, wie schnell der Vertrauensvorschuss, den viele Briten der Partei gegeben hatten, aufgebraucht sein kann. Mit dieser bedrückenden Gewissheit im Hinterkopf diskutierten die Abgeordneten über den geplanten Neuanfang Großbritanniens nach 14 Jahren konservativer Regierung.
Die To-do-Liste der Partei ist lang, und wie in Deutschland steht die Einwanderung ganz oben. Auf der Agenda des viertägigen Parteitags nahm das Thema einen prominenten Platz ein. Vor allem die illegale Einwanderung über den Ärmelkanal treibt die Partei um. Mehr als 25.000 Menschen sind in diesem Jahr in Booten von Frankreich über den Seeweg nach England gekommen. Seit dem Brexit muss Großbritannien diese Herausforderung alleine bewältigen, da das Dublin-Abkommen, das eine Rückführung in das EU-Erstankunftsland vorsieht, nicht mehr gilt.
Für Labour entwickelt sich die Krise am Ärmelkanal zum moralischen Dilemma. Die Sozialdemokraten betonen eine rechtskonforme und humane Migrationspolitik und haben als Signal gleich in der ersten Amtswoche das Ruanda-Gesetz der konservativen Vorgängerregierung aufgehoben, das Abschiebungen von unerlaubt eingereisten Migranten in das ostafrikanische Land vorsah. Dieses war während ihrer Amtszeit vor nationalen und internationalen Gerichten gescheitert.
Gleichzeitig wollen sie nicht als zu nachgiebig erscheinen und der illegalen Migration einen Riegel vorschieben. Schließlich kann ihre Migrationspolitik letztlich über ihr politisches Überleben entscheiden. Illegale Migration gilt als eine der Hauptsorgen der britischen Bevölkerung.
Laut einer Umfrage der Denkfabrik „More in Common“ sind 83 Prozent der Briten über die Lage am Ärmelkanal besorgt. Für Unmut sorgt, dass Migranten teilweise in Hotels untergebracht werden müssen, weil Asylunterkünfte fehlen und die Beamten mit der Bearbeitung der Anträge nicht hinterherkommen. Dieser Praxis will Labour ein Ende setzen, indem nicht nur die Asylverfahren beschleunigt werden.
Die Partei setzt auch auf verstärkte Grenzsicherung. „Anstatt 700 Millionen Pfund auszugeben und tausend Leute zu beschäftigen, um vier Freiwillige nach Ruanda zu schicken, verstärken wir unseren Grenzschutz“, erklärte Innenministerin Yvette Cooper in einer Rede auf dem Parteitag. „Das geht am besten, wenn wir mit den Ländern jenseits unserer Grenzen zusammenarbeiten.“ Im Zentrum des Plans steht ein Grenzschutzkommando („Border Security Command“), das aus Mitteln des Ruanda-Gesetzes der Vorgängerregierung finanziert werden soll. Ziel ist, illegale Schlepperbanden zu zerschlagen.
Die Einrichtung soll die Aktivitäten von Einwanderungsbehörde, Geheimdienst, Grenzschutz und Kriminalpolizei koordinieren und Sonderrechte erhalten, die sonst der Terrorismusbekämpfung vorbehalten sind. Auch soll sie eng mit der EU-Strafverfolgungsbehörde Europol zusammenarbeiten.
Wird Labour den eigenen Ansprüchen gerecht?
Innerhalb der Labourpartei ist das Vorgehen umstritten. Während die einen strikten Grenzschutz für richtig halten, sind andere der Meinung, dass die Labourpartei damit ihren eigenen Ansprüchen an eine humane Migrationspolitik nicht gerecht wird. Mehrere parteiinterne Gruppen übten gegenüber den Sozialdemokraten nahestehenden Online-Plattform „Labour List“ scharfe Kritik.
Labour sei dabei, „die schlimmsten Aspekte der autoritären Grenzpolitik der Tories zu übernehmen“, sagte ein Sprecher von Momentum. Stella Creasy, Labour-Abgeordnete, widerspricht. „Es ist absolut richtig, dass wir uns die Schlepper vorknöpfen“, sagt sie WELT. „Grenzschutz ist nur ein Teil unserer umfassenden Migrationsstrategie, zu der auch legale Einreiserouten für Asylsuchende gehören. Zusammen ist das ein humaner und effektiver Ansatz.“
Auf dem Labour-Parteitag ging es daneben um die Frage, ob Großbritannien bei der Eindämmung der Migration auch auf anderen Wegen enger mit der EU zusammenarbeiten kann. Passend dazu haben die Regierungen Deutschlands und Frankreichs am Dienstag in einem Brief an die EU-Kommission die Aufnahme von Verhandlungen über ein Asyl- und Migrationsabkommen mit Großbritannien gefordert.
„Das Fehlen einer Regelung für den Personenverkehr zwischen dem Vereinigten Königreich und dem Schengen-Raum trägt eindeutig zur Dynamik der irregulären Migrationsströme bei“, heißt es in dem Brief. Wie ein solcher Deal aussehen könnte, dazu hatte Starmer schon als Oppositionsführer Ideen.
In einem Interview mit der „Times“ brachte er im vergangenen Jahr ein „Quid-pro-quo-Abkommen“ zwischen London und Brüssel ins Spiel. Demnach sollte Großbritannien Migranten in die EU zurückschicken und im Gegenzug Migranten aufnehmen, die sich in der EU aufhalten. Konkrete Zahlen nannte er damals nicht. Prompt hagelte es Kritik, Abgeordnete in Brüssel lehnten den Vorschlag als „illusorisch“ ab, Konservative kolportierten, Labour wolle scharenweise Migranten ins Land lassen. Seither zeigte sich Starmer mit Vorschlägen in die Richtung bedeckt.
Auch die Staatsministerin für Grenzsicherheit, Angela Eagle, blieb am Montag auf WELT-Nachfrage vage. Es sei „zu früh, über solche Dinge nachzudenken, erst muss die EU-Kommission stehen“, sagte sie am Rande des Parteitags. Labour-Politikerin Creasy, die auch Vorsitzende der parteiinternen Gruppe Labour Movement for Europe ist, klang hingegen weitaus handlungsbereiter: „Die Vorgängerregierung hat zu viel Zeit damit verbracht, unsere europäischen Kollegen in Zeitungen anzuschnauzen. Diese Regierung muss sich an einen Tisch setzen, um ernsthaft über Einwanderung zu sprechen.“
Starmer muss nun beweisen, dass er kein abgehobener Politiker mit teuren Vorlieben ist, sondern die Probleme am Ärmelkanal lösen kann, an denen die Konservativen gescheitert sind. Da die Wählergunst schwindet, spielt er auf Zeit.
Doch illegale Einwanderung eignet sich nicht für schnelle Lösungen, wie das jahrelange Versagen der EU zeigt. Erschwerend kommt für den Premier hinzu, dass die EU-Kommission in Brüssel bislang wenig Interesse zeigt, London unter die Arme zu greifen. Starmer müsste der EU etwas anbieten, zum Beispiel die Bereitschaft, Migranten aus der EU aufzunehmen oder sich auf ein Mobilitätsprogramm für Jugendliche einzulassen, das einige Länder forcieren. Vorschläge, die in Großbritannien für Zündstoff sorgen.
Mandoline Rutkowski ist Korrespondentin für die Berichtsgebiete Vereinigtes Königreich und Irland. Seit 2023 berichtet sie für WELT aus London.