Großbritannien: Wie die Tories die Merz-Strategie nachahmen wollen | ABC-Z
Mit dem Kernthema Migration möchten die britischen Konservativen Wähler zurückgewinnen. Rechtsaußen und Mitte-rechts-Politiker liefern sich einen erbitterten Wettstreit über den künftigen Kurs – weswegen nun sogar Deutschland als Vorbild in den Fokus rückt.
Aufgegeben hat man die britischen Konservativen nicht. Am Dienstag ist der Saal im Leonardo Royal Hotel in Birmingham überfüllt, bis auf den Flur stehen die Besucher, die Ohren in Richtung Podium gespitzt. Dort sitzen die Gefallenen, das Tory-Urgestein Michael Gove, der zur Wahl im Juli gar nicht erst angetreten war, und Matt Warman, der von einem Populisten von Reform UK aus dem Unterhaus gejagt wurde. „Gibt es einen Weg zurück an die Macht?“, unter dieser Frage sind die Kollegen am Rande des Parteitags der Konservativen zusammengekommen.
Der Weg zurück in die Regierung, das weiß die Partei, erfordert einen gewaltigen Kraftakt. Nur 121 von 650 Sitzen konnten die Konservativen, die von politischen Kommentatoren einst als „erfolgreichste konservative Partei der Welt“ bezeichnet wurden, bei den Unterhauswahlen erringen – das schlechteste Ergebnis seit Aufzeichnung der Wahlergebnisse. Dass die Menschen tatsächlich an eine Zukunft für die Tories glauben, zeige der Andrang zu diesem Gespräch, witzelt eine Abgeordnete auf dem Podium.
Die Grundstimmung auf dem Parteitag der Konservativen, der am Mittwoch endet, ist trotz der historischen Niederlage überraschend heiter. Die Podiumsdiskussionen sind gut besucht, abends wird in der Silent Disco geschunkelt. Endlich sehe man alle Freunde wieder, die im Sommer ihre Sitze verloren haben, freut sich ein Abgeordneter. Ein großes Klassentreffen. Doch der Klassenlehrer fehlt.
Noch-Chef Rishi Sunak hatte sich am Sonntag nur zu einem kurzen Höflichkeitsbesuch in Birmingham blicken lassen. Seine Suite, so berichtet „Politico“, habe er nach seiner Abreise dem ehemaligen Einwanderungsminister Robert Jenrick überlassen. Die Wände seines Hotelzimmers seien zu dünn, er könne seine Parteikollegin Kemi Badenoch im Nebenzimmer hören. Gerade jetzt ist das gefährlich, denn die beiden liefern sich auf dem Parteitag einen Wettstreit, der über die Zukunft der Partei entscheiden wird.
Die Debatte der Tories erinnert an die innerhalb der CDU/CSU nach der Bundestagswahl 2021, zwischen dem Merkel- und dem Merz-Flügel. Eine zentrale Frage war der Umgang mit der Partei rechts von ihnen, der AfD: Sollten CDU und CSU sich strikt abgrenzen oder thematisch weiter nach rechts bewegen und Kernthemen der AfD aufnehmen, um Wähler zurückzugewinnen? Aktuell hat sich die Union für Friedrich Merz und seine Vorschläge für eine striktere Migrationspolitik entschieden.
Die Tories wählen am 2. November ihren neuen Parteivorsitzenden. Im Rennen sind neben den Rechtsaußen Jenrick und Badenoch auch der Mitte-rechts-Politiker James Cleverly, ehemaliger Außen- und dann Innenminister, und der gemäßigte Tom Tugendhat, ehemaliger Staatsminister für Sicherheit. Nächste Woche wählt die Fraktion im Unterhaus die beiden Finalisten aus, danach entscheiden die Mitglieder.
Tugendhat gilt als Außenseiter, ansonsten ist der Ausgang völlig offen. Der Parteitag dient den Kandidaten als Schaulaufen, schon beim Betreten der Konferenzhallen werden die Besucher von meterhohen Wahlkampfplakaten der Kandidaten begrüßt, deren Stil an den Personenkult der Sowjetzeit erinnert – „Vereinigen wir unsere Partei“ (Cleverly) und „Verändern, gewinnen, abliefern“ (Jenrick) steht dort.
Der neue Parteivorsitzende ist zentral für den Neustart der Konservativen, denn die Mitglieder erhoffen sich von ihm eine Antwort auf eine die Partei zerfressende Frage. Im Juli hatten die Konservativen viele Wähler an die Reform-Partei des Populisten Nigel Farage verloren. Seither wird in der Partei über den Umgang mit dem Wählerexodus gestritten: Soll man sich durch einen ideologischen Schwenk in die Mitte klar von den Rechtspopulisten abgrenzen oder sich durch einen Rechtsruck auf deren Positionen zugehen?
Diese Frage ist ein Dauerbrenner auf den Podien in Birmingham und führt schnell zur Migrationspolitik der Partei. Denn die Rechtspopulisten hatten den Konservativen vor allem mit ihren Visionen einer restriktiven, teils rechtswidrigen Einwanderungspolitik Stimmen abgejagt.
Die Begrenzung der Zuwanderung ist ein Kernanliegen der konservativen Wählerschaft, doch ihre Stammpartei scheiterte hier während ihrer Regierungszeit – die Nettozuwanderung stieg auf Rekordhöhen, die Migrationskrise am Ärmelkanal blieb ungelöst. Der Erfolg der Konservativen, ihre Rückkehr an die Macht, wird letztlich entscheidend von ihrer Migrationspolitik abhängen. Wie diese aussehen soll, darüber gehen die Vorstellungen der Kandidaten weit auseinander.
Am Sonntagmittag sitzt Jenrick in einem überfüllten Konferenzraum und spricht Worte, die er selbst kaum treffender verkörpern könnte. „Wir müssen uns verändern, um zu gewinnen“, sagt der 42-Jährige, kerzengerade und leicht breitbeinig auf seinem Stuhl sitzend. Sein Lächeln weicht nur dann einer entschlossenen Miene, wenn er die Richtung vorgibt, in die er seine Partei führen will.
Der Konservative ist wie verwandelt, und das liegt nicht nur an den verlorenen Kilos, dem neuen Kurzhaarschnitt und dem selbstbewussten Auftreten, das man bei ihm lange vergeblich suchte. Der anfangs gemäßigte Politiker hat in den vergangenen Monaten einen Rechtsruck vollzogen, der in seinem Rücktritt als Einwanderungsminister gipfelte, weil die Regierung in seinen Augen nicht hart genug gegen illegale Einwanderer am Ärmelkanal vorging.
Seine Strategie: „Wir müssen ‚Reform UK‘ den Wind aus den Segeln nehmen“, erklärte der Politiker. Die legale Einwanderung müsse durch eine „Obergrenze von Zehntausenden oder weniger“ begrenzt werden, illegale Einwanderer „innerhalb weniger Tage festgenommen und abgeschoben“ werden, wenn nicht in ihr Herkunftsland, dann in ein Drittland. Jenrick ist Befürworter des Ruanda-Gesetzes, nach dem illegale Einwanderer in das ostafrikanische Land abgeschoben werden sollen.
Die Konservativen hatten das Gesetz unter dem damaligen Premierminister Boris Johnson auf den Weg gebracht. Doch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte schaltete sich wegen der kritischen Menschenrechtslage ein und stoppte die Abschiebeflüge. Jenrick plädiert deshalb vehement für einen Ausstieg aus der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK).
Auch die ehemalige Gleichstellungsministerin Badenoch spricht sich für eine härtere Gangart gegenüber Migranten aus, ist Befürworterin des Ruanda-Gesetzes und liebäugelt mit Vorschlägen zum Austritt aus der EMRK und einer Obergrenze. Es sind ganz ähnliche Töne, wie sie Reform UK im Wahlkampf anschlug. Neben der Aufkündigung des internationalen Menschenrechtsvertrags forderte die Partei, die illegale Einwanderung auf null zu reduzieren und „nicht-essenzielle“ legale Einwanderung stark einzuschränken. Vermeintlich einfache Lösungen für ein hochkomplexes Problem.
„Das wird uns als Partei umbringen“
Bei einem anderen Kandidaten lösen solche Vorschläge nur Kopfschütteln aus. Cleverly, hochgewachsen, mit dröhnender Stimme, spricht am Dienstag vor einem vollen Saal. Der erfahrene Politiker weiß sich zu präsentieren, macht Witze, über die das Publikum laut lacht, und wird an den richtigen Stellen ernst.
„Wer Ihnen sagt, es gäbe eine einfache Lösung für die Zuwanderung, der hat keine Ahnung von Migrationspolitik oder hofft, dass Sie keine haben“, sagt der bis Juli amtierende Innenminister und erntet Applaus. „Noch einmal so zu tun, als seien wir knallhart, aber nicht zu liefern, wird uns als Partei umbringen.“
Deshalb sei gefordert: Die scharfe Rhetorik zurückschrauben, das Vertrauen der Wähler zurückgewinnen. Und wie genau? Er verweist auf seine Erfolge im Amt: mehr Abschiebungen, Verbot des Familiennachzugs für Studierende und Pflegekräfte. Maßnahmen, die die Zahlen zwar leicht gedrückt hatten, aber auch an eine „Weiter so“-Politik suggerieren, die die Wähler in die Arme der Rechtspopulisten trieb. Am Mittwochmittag, nach den Reden der Kandidaten, kürten ihn zumindest die britischen Medien auf X zum Frontrunner. Im November entscheidet die Basis. Die ist bekannt dafür, rechte Kandidaten zu bevorzugen.
Mandoline Rutkowski ist Korrespondentin für die Berichtsgebiete Vereinigtes Königreich und Irland. Seit 2023 berichtet sie für WELT aus London.